Der Triumph des Archivars

Die Zukunft wird anders: Jochen Schimmangs Roman „Neue Mitte“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die nächste Diktatur auf deutschem Boden wird neun Jahre dauern und keine zwölf. Sie wird, wie jede Diktatur, schlimm sein. Es werden Oppositionelle verfolgt und eingesperrt werden, der letzte frei gewählte Kanzler wird von den im Jahr 2016 putschenden Generälen sogar erschossen werden. Aber verglichen mit den Schrecken der Nazizeit wird diese Diktatur nur wie ein müder Aufguss wirken. Eine zeitgenössische Historikerin wird im Rückblick diese Militärdiktatur mit einem Hegel-Wort so charakterisieren: Sie sei nur noch die Farce gewesen, und nicht mehr die große Tragödie.

Zu Beginn von Jochen Schimmangs aufregendem Zukunftsroman ist die „graugrüne“ Schreckenszeit schon wieder Geschichte. Zumindest scheint es so. Im Jahr 2030 liegt die zweite Stunde Null bereits vier Jahre zurück. Einmal mehr mussten sich die Deutschen von der Weltgemeinschaft befreien lassen. In den Trümmern der Hauptstadt versuchen verängstigte Menschen, sich einer wieder offenen Zukunft zu stellen. In Berlins Mitte, auf dem Gelände des ehemaligen Regierungsviertels, ist man da schon weiter. Dort, in einem offenen, noch herrschaftsfreien Raum, hat sich in Schimmangs Fiktion eine heitere, zukunftsfrohe Avantgarde angesiedelt und ergreift die „Chance des noch nicht Festgelegten“: „Wie alle anderen hier sagte ich entweder draußen, wenn ich den Rest der Stadt meinte, oder aber in der Hauptstadt, eine Formel, von der keiner mehr wusste, wer sie als erster aufgebracht hatte. Erst jetzt fiel mir auf, was für ein ausgeprägtes Sonderbewusstsein wir alle hatten. Für uns war das exterritoriales Gelände, eine Insel mitten in Berlin, das wir fast nie beim Namen nannten, weil wir nicht das Gefühl hatten, zu seinen Bewohnern zu gehören. Exterritoriales Gelände war das hier während der Zeit der Junta natürlich auch gewesen, streng durch unzählige Verteidigungsanlagen und Zugangskontrollen abgeschirmt. Doch jetzt war dieses riesige Areal frei zugänglich.“

Es sind die Kreativberufe von heute, die in den Resten der ehemaligen Junta-Prachtbauten ihre Start-ups gründen, IT-Freelancer, die Digitale Bohème. Daneben gibt es altmodisch anmutende, aber plötzlich wieder viel gefragte Berufsvertreter wie einen Geigenbauer oder eine Knopfmacherin. Cineasten eröffnen ein Kino, das erste nach dem großen Kinosterben. Auch eine Zeitungsredaktion siedelt sich hier an – unter den jungen Leuten kommt das Zeitunglesen, ganz altmodisch auf Papier im Café, wieder groß in Mode. Für Verpflegung sorgt ein Haufen emsiger Anarchisten, die endlich ihre Kropotkin’schen Ideale gegenseitiger Hilfe verwirklichen können.

Man sieht: Schimmangs Zukunft ist anders. Sein Roman zeigt eine klassische Utopie, ein vergängliches Nirgendwo – und zugleich eine durch und durch Schimmang’sche Wunschfantasie. In der die Lieblingsmetapher dieses Autors, die Lücke, in der allein das Glück zu finden sei, Wirklichkeit wird. Im Roman lässt er darüber den Geländegärtner mit dem sprechenden Namen Ritz philosophieren: „Die Zeiten nach so genannten Zusammenbrüchen bieten ja oft einen neuen Boden für Pflanzen, die bis dahin nur im Verborgenen geblüht haben oder als ausgestorben galten. Das gilt zwar nur für bestimmte Milieus – wie unseres – und nur für eine bestimmte Zeit, bis alles sich wieder normalisiert hat, aber diese Zeit und diesen Boden muss man nutzen.“

Wer will, könnte diesem Science-Fiction-Roman vorwerfen, Problemfelder auszusparen, von denen wir heute glauben, dass sie die Zukunft prägen werden, wie den demografischen Wandel oder „Multikultiprobleme“. Tatsächlich ist Schimmang viel zu klug, um in die Falle vieler Science-Fiction-Romane zu tappen und das Heute einfach linear weiterzuspinnen wie zuletzt Gary Shteyngart in seiner „Super Sad True Love Story“. Schimmangs Utopie ist bewusst rückwärtsgewandt, seine liebenswerten Geländebewohner sind ehemalige Widerständler oder innere Emigranten. Wie der Icherzähler, der die graugrünen Jahre im ruhigen Rheinland verbrachte. Sie sind allesamt eigenbrötlerische Nostalgiker und Nischenbewohner – besser gesagt, Archivare. Also Vertreter jenes Typus, zu dem nach Schimmang auch der Dichter zählt. So wie sich die Figuren im Roman wundern, dass es auch im Jahr 2030 noch richtige Winter gibt, so bizarr mutet es an, wenn plötzlich doch einmal ein klassisches Genreelement auftaucht wie die „Snow Spiders“, Spinnenroboter. Bezeichnenderweise wurden diese Waffensysteme von den Anarchisten zum Schneeräumen umfunktioniert.

Schimmangs Protagonist mit dem literaturträchtigen Namen Ulrich Anders kommt auf das Gelände, um einem Freund zu helfen, eine Bibliothek aufzubauen. Ein Mann ohne Eigenschaften ist dieser Ulrich allerdings nicht, er gleicht eher einem schüchternen Parzifal, der zwar ganz nah dabei ist, das Entscheidende aber verpasst – und damit ganz zufrieden ist. Schimmangs anspielungsreicher Roman ist ein sympathisches Beispiel postmoderner Literaturliteratur. Unter den für die neue Bibliothek gespendeten Büchern finden sich Titel wie „Kafka als Hausgenosse“ von einem Franz Odradek oder „Das Sonja-Komplott“ eines gewissen Gregor Korff. Letzteren kennen Schimmang-Leser als Hauptfigur des Romans „Das Beste, was wir hatten“. Dazu passt, dass Ulrich Anders am Ende erfährt, dass dieser Gregor Korff in Wahrheit sein Vater war: So wie die eine Figur die nächste zeugt, zeugt hier Literatur Literatur. Auf die vor zwei Jahren gefeierte Rückschau auf das glückliche Provisorium Bundesrepublik folgt eine in einem ähnlich wunderbar schwebend elegischen Ton geschriebene Vorausschau auf eine neue Enklave. Die allerdings gefährdet ist, wie Ulrichs toughe Geliebte, die Programmiererin Eleanor, betont: „Man muss das alles natürlich notfalls auch verteidigen können. Man muss verteidigen, was man liebt“.

Doch sind die meisten Geländebewohner viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um die drohenden Gefahren zu bemerken. Leben und leben lassen, scheint ihr Motto zu sein. Man kann darin eine Kritik des Autors an einer angesichts unserer eigenen gefährdeten Gegenwart erstaunlich sorglosen „Generation iPhone“ sehen. Nach und nach zeigen sich Risse im Idyll, wird eine Kinderbande verhaftet, eskaliert ein Eifersuchtsdrama und tauchen vor allem wieder graugrün Uniformierte auf, die die Macht zurückerobern wollen. Ihr Brandanschlag zur Eröffnungsfeier der neuen Bibliothek scheitert allerdings kläglich. Der kluge Bibliothekar hat zuvor die Buchrücken imprägnieren lassen. Das dürfte mehr bedeuten als nur die denkbar schönste Kontrafaktur auf das ehrwürdige Motiv des Bibliotheksbrandes.

Titelbild

Jochen Schimmang: Neue Mitte. Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2011.
256 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783894017415

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