Am Ende müd in dieser früheren Welt

Eine Marbacher Tiefenbohrung zum Jahr 1912

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man darf sich keine opulente Schau erwarten, wenn man das MoMa betritt. Die wenigen Stücke und Papiere in den Vitrinen sind sparsam, fast spartanisch ausgelegt – kein Vergleich also mit der Ernst-Jünger-Ausstellung 2010/2011 („Arbeiter am Abgrund“), wo man mit Hans Ulrich Gumbrecht den Eindruck gewinnen konnte, hier habe „das Material allmählich die Oberhand über die Menschen gewonnen“. Gumbrecht wird hier zitiert, weil seinem Buch „1926“ eine Art Vorbildfunktion für die Arrangements dieser Ausstellung zukommt. Darin fragt der Komparatist (mit Professur in Stanford) nach Dispositiven der Zwischenkriegszeit: „Man sollte das Gefühl haben, ‚im Jahr 1926′ zu sein.“

Wanderer, kommst Du nach Marbach

Hat man in Marbach das Gefühl, das Jahr 1912 zu betreten? Die Ausstellungsmacher haben sich für eine kühle, moderne Ästhetik entschieden, Neue Sachlichkeit quasi. Man betritt das Helldunkel eines tief gestaffelten Raumes, und jede Staffel trägt einen Namen: Schnitt, Schrift, Schichten, Form, Glanz, Rausch, Wuchern, Leben. Ein Gedicht von Apollinaire („Am Ende bist Du müd dieser früheren Welt“) beschwört eine Umbruchssituation, wie sie van Gogh noch gesehen und gemalt hat: Auf der einen Seite der Hügel von Montmartre mit seinem Vergnügungsviertel und dem vibrierenden Nachtleben, auf der anderen die sanft abfallenden Gärten mit dem prächtig reifenden Gemüse – Landschaftliches, von dem der Moloch der Metropole nichts übriggelassen hat. Rilke hat dieses lärmende Paris in seinem „Malte Laurids Brigge“ festgehalten, und er ist mit seinem „Cornet“, 1912 in der Insel-Bücherei erschienen, prominent im LiMo vertreten, wenn auch nicht als Teil der Ausstellung, sondern als korrespondierendes Beiwerk im Rahmen der „Suhrkamp-Insel“-Serie.

Am Ende der spartanischen Schau „blüht der literarische Animismus“, der die Dinge „beleben“ wollte, wie überhaupt der Begriff des Lebens in dieser Epoche emphatisiert wird: nur ein „gesteigertes Leben“ (mit der Möglichkeit des „Lebenswechsels“) kann ein erfülltes Leben sein. In Alfred Döblins Prosa („Die Ermordung einer Butterblume“) wird freilich deutlich, dass diese Emphase auch zur Gefährdung der Person und zum Selbstverlust durch Wahnsinn und Tod führen kann.

Der Katalog (das Marbacher Magazin 137/138) fordert dazu auf, Korrespondenzen zwischen den einzelnen Exponaten herzustellen – oder sie zu erspüren. „Leitobjekte“, evident oder erratisch, unterstützen die Narrative, die „Stimmungsthemen“, den „Sound der Väter“ (Helmut Lethen), der dann auch tatsächlich hörbar wird: denn Hans Ulrich Gumbrecht erinnert mit seiner Begeisterung für den zeitgenössischen Tango an die Begleiterscheinungen damaliger Aufzeichnungs- und Speicherungstechnik – als könne man das Material hören, das die Epoche zur Ausgestaltung ihrer Lebenswelten erfand.

Titelbild

1912. Ein Jahr im Archiv. Mit einem Gespräch mit Hans Ulrich Gumbrecht.
(Marbacher Magazin 137/138).
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach 2012.
132 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783937384818

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