„Dem Philosophen das Höchste“

Arne Zerbst veranschaulicht F. W. J. Schellings idealistische Theorie der bildenden Kunst

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Kunst ist“, sagt Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in seiner Schrift „System des transzendentalen Idealismus“ von 1800, „eben deswegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln, ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muß.“ Also vollbringt die Kunst gemäß der Anschauung Schellings jene Synthesis, die Georg Wilhelm Friedrich Hegel dem Geschäft der Philosophie selbst aufgab. „Uns gilt die Kunst“, so heißt es in Hegels „Vorlesungen über die Ästhetik“, „nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft.“

Schelling hingegen postuliert die Gleichrangigkeit von Philosophie und Kunst, insofern jene die Versöhnung der Gegensätze ideal, diese real leistet, wobei aber auch diese Entgegensetzung wiederum letztlich im Göttlich-Absoluten aufgehoben ist. Auf Seiten der Kunst erzeugt das Genie als schöpferisches Individuum, in dessen Kreativität bewusstes Nachgestalten der schaffenden Natur (natura naturans) mit unbewusstem zusammenfällt, die Vereinigung der die endliche Welt bestimmenden Dualismen wie Endlich – Unendlich, Denken – Sein, Subjekt – Objekt, Freiheit – Notwendigkeit et cetera.

Die Grundzüge der philosophischen Ästhetik Schellings sind (abgesehen vom fünften und sechsten Hauptabschnitt des „Systems des transzendentalen Idealismus“) im wesentlichen niedergelegt in der Rede „Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur“ (1807), in der vierzehnten Vorlesung „Über die Methode des akademischen Studiums“ (nach Zerbst zugleich „Einleitung A“ der „Philosophie der Kunst“) sowie in der 1802/1803 in Jena und 1804/1805 in Würzburg gehaltenen Vorlesung „Philosophie der Kunst“.

In dieser Vorlesung errichtet Schelling ein triadisches Schema aus realer Einheit (1), idealer Einheit (2) und Indifferenz beider (3). Demnach gilt etwa für die Malerei, die ihrerseits innerhalb der bildenden Kunst (zwischen Musik und Plastik) eine ideale Einheit darstellt: Zeichnung ist die Form der realen, Helldunkel die Form der idealen Einheit; im Kolorit (speziell im Inkarnat) findet sich beider Indifferenz. Freilich mutet dieser Formalismus extrem artifiziell an, doch zeitigt er im Verlauf der Abhandlung manch überzeugende Einzelanalyse. Wesentlich einfacher ist dann das Schema von 1807 gebaut: Die Rede „Über das Verhältnis…“ basiert auf der Voraussetzung, dass sich die Malerei im historischen Verlauf vom Übergewicht der Materie über die Seele (Michelangelo) über ein Stadium des Ausgleichs (Correggio) hin zu einem Übergewicht der Seele über die Materie (Guido Reni) entwickelt.

Zeitlich zwischen Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“ und Hegels Ästhetik-Vorlesungen gelegen, ist den kunstphilosophischen Ausführungen Schellings „bisher geringere Aufmerksamkeit zuteil geworden“, wie Arne Zerbst in seiner hier in Buchform vorliegenden Dissertation über „Schelling und die bildende Kunst“ bedauert. Überdies herrscht das Vorurteil, Schelling habe seine Theorie nur sehr ungenügend, bestenfalls beiläufig an die Betrachtung konkreter Kunstwerke angebunden; ein Irrtum, den Zerbst nunmehr korrigieren möchte. „Da […] die bisherige Forschung fast ausschließlich zu Schellings philosophischer Spekulation und Systematik Stellung nimmt, soll hier erstmals der Versuch unternommen werden, neben der philosophischen zusätzlich die konkrete Seite, also die kunstgeschichtliche Dimension seiner Kunstphilosophie in den Blick zu nehmen.“ Folglich durchforstet Zerbst die kunstphilosophischen Schriften Schellings in akribischer Detailarbeit darauf hin, wo welcher Künstler respektive welches Kunstwerk der Antike oder der Moderne (bemerkenswerterweise ist das christliche Mittelalter so gut wie nicht vertreten) in welchem Argumentationszusammenhang genannt wird.

Das geschieht erst einmal und vorrangig in dem mit 61 durchwegs gut reproduzierten Abbildungen versehenen Hauptteil, welcher Schellings Texte unter besonderer Berücksichtigung der einzelnen Kunstwerke ausgiebig paraphrasiert und auslegt; sodann aber auch im angehängten Katalog, der in vorzüglicher, übersichtlicher Manier die Exponate des von Zerbst rekonstruierten imaginären Schelling-Museums noch einmal vorstellt. Dieser Katalog ist in höchstem Maße zweckdienlich. Er führt zu jedem Künstler/Kunstwerk die Stellen des Erwähntwerdens im Korpus der Schelling-Texte konkordanzartig mit den einschlägigen Zitaten an, klärt darüber auf, woher der Philosoph seine Kenntnisse bezog (Autopsie und / oder Literatur) und erteilt darüber hinaus weiterreichende Auskünfte über die Künstler und ihre Werke. Moderne Maler, die in der „Philosophie der Kunst“ oder in der Rede „Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur“ Erwähnung finden, sind nach Zerbsts Katalog die folgenden: Albrecht Dürer, Raffael, Michelangelo, Correggio, Leonardo da Vinci, Tizian, Pietro Perugino, Hans Holbein der Jüngere, Francesco Albani, Nicolas Poussin, Guido Reni, Peter Paul Rubens, Pieter van Laer, William Hogarth, William Hodges, Cimabue, Giotto und die Künstlerfamilie Carracci.

Während Schelling die antiken Artefakte aus der Literatur (insbesondere von Johann Joachim Winckelmann) kannte, behandelte er in seinen Kunstreflexionen mit Vorliebe auch solche modernen Stücke, die er – in Dresden oder München – mit eigenen Augen begutachtet und bewundert hatte. Raffaels „Sixtinische Madonna“ hatte er – wie auch Correggios „Heilige Nacht“ – 1798 während seines Besuchs der Dresdner Gemäldegalerie anlässlich des „frühromantischen Klassentreffens“ zusammen mit Friedrich Schlegel, August Wilhelm Schlegel, dessen Frau Caroline, Novalis, Fichte und anderen jungen Intellektuellen im Original gesehen. Überhaupt war die Romantik um 1800 voller Raffael-Enthusiasmus. Wilhelm Heinrich Wackenroder nannte ihn in den „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ wörtlich „den Göttlichen“; und Schelling tituliert ihn nun als den „wahrhaft göttliche[n] Priester der neueren Kunst“. War Michelangelo in der Zeichnung der einsame Meister, Correggio im Helldunkel und Tizian im Kolorit, so habe Raffael in all diesen drei Kategorien zugleich Unübertreffliches geschaffen und figuriert deshalb in der „Philosophie der Kunst“ als die absolute Höhe der Malkunst. So gesehen, hätte es nahegelegen, die „Sixtinische Madonna“ auf der Vorderseite des Buches erscheinen zu lassen. Wer weiß jedoch, welche Überlegung der Entscheidung zugrunde lag, sie auf den hinteren Umschlag zu plazieren? Allerdings ist Guido Renis „Himmelfahrt Mariae“ für den vorderen Umschlag durchaus keine üble Wahl, rangiert doch dieses ebenfalls großformatige Ölgemälde von 1642 auch ganz weit oben in der Reihe der von Schelling für repräsentativ erachteten Kunstwerke.

In der Münchener Rede des Jahres 1807 äußerte sich Schelling über diese Hervorbringung des „Maler[s] der Seele“ so: „In der Gestalt der gen Himmel erhobenen Jungfrau ist alles plastisch Herbe und Strenge bis auf die letzte Spur getilgt; ja scheint nicht in ihr die Malerei selbst, wie die freigelassene der harten Formen entbundene Psyche auf eignen Fittichen sich zur Verklärung emporzuschwingen? Hier ist kein Wesen, das mit entschiedener Naturkraft nach außen besteht; Empfänglichkeit und stille Duldsamkeit drückt alles an ihr aus, bis auf jenes leichtvergängliche Fleisch, dessen Eigenschaft die welsche Sprache mit dem Namen der morbidezza bezeichnet, ganz verschieden von dem, mit welchem Raphael die herabkommende Himmelskönigin bekleidet, wie sie dem anbetenden Papst [hl. Sixtus] und einer Heiligen [hl. Barbara] erscheinet.“ Den Ausdruck seelenvollen Emporstrebens im Antlitz der barocken Assunta sieht Schelling in einer antiken Niobe-Skulptur aus den Uffizien präfiguriert.

Nun möchte ich die Besprechung dieses Schelling-philologisch sowie philosophie- und kunstgeschichtlich wichtigen Buches von Arne Zerbst nicht beenden, ohne den vielleicht schönsten Teil zumindest angesprochen zu haben. Der Autor beginnt nämlich mit einem „Auftakt“, welcher die frühesten Begegnungen Schellings mit Kunstdenkmälern dokumentiert, wie sie in den Briefen des jungen Mannes an seine Eltern von 1796 dokumentiert sind. Ob Schelling auf seiner kleinen Tour durch Deutschland auf Kupferstiche und ein Gemälde von Rubens trifft oder ob er Schlösser und Parkanlagen offenen Sinnes und aufmerksamen Geistes durchstreift – Zerbst findet die Kostbarkeiten dieser Exkursion wieder, präsentiert sie in knapp fünfzig erlesenen, zumeist zeitgenössischen Illustrationen und liefert auf diese Weise ein feines Miniaturpanorama der Bildungsbeflissenheit jener Zeit, die uns heute fast ein wenig spießbürgerlich-anachronistisch vorkommen mag.

Eine Lektüre-Empfehlung zum Schluss: Zwar verweist Zerbst in seinem Forschungsbericht auf Dieter Jähnigs zweibändiges Opus „Die Kunst in der Philosophie“ (1966/1969) als Standardwerk, hat aber – wohl aus Gründen zeitlicher Überschneidung – dessen Publikation „Der Weltbezug der Künste. Schelling, Nietzsche, Kant“ von 2011 nicht mehr zur Kenntnis nehmen können. Das ist eigentlich schade, weil dieses jüngste Buch des 1926 geborenen Jähnig, welches die Münchener Rede Schellings von 1807 in die kunsttheoretische Evolutionslinie zwischen dem – von Jähnig stupend ausgedeuteten – „interesselosen Wohlgefallen“ aus Kants „Kritik der Urteilskraft“ und Friedrich Nietzsches ekstatischem Ästhetizismus positioniert, eine herrliche Ergänzung zu Zerbsts Studie wäre. Auch Jähnig präsentiert Bildmaterial („Bildbeispiele zu Schelling“), indes mit völlig anderer Absicht als Zerbst: Ihm ist daran gelegen, die ästhetischen Grundannahmen Schellings anhand von solchen Kunstwerken zu illustrieren, die dieser nicht kannte, die aber nach Jähnigs gelehrter Ansicht mit Schellings Leitgedanken konvergieren: Authentische Kunst entfernt sich von der empirischen, „optischen“ Natur, folgt deren wesentlichen, „kreativen“ Potenzen und wird ihr – aus anti-„realistischer“ (antiklassizistischer) Distanz – um so ähnlicher.

Seine (33 zumeist farbigen) Bildbeispiele bringt Jähnig aus der Antike, aus der Malerei von Zeitgenossen Schellings (zum Beispiel Philipp Otto Runge, Caspar David Friedrich, John Constable und William Turner) sowie – ebenso überraschend wie überzeugend – aus dem Œuvre Paul Klees. Ein markanter Satz Paul Klees könnte, so Dieter Jähnig, Schellings Münchener Rede von 1807 als Motto vorangestanden haben: „Kunst verhält sich zur Schöpfung gleichnisartig.“

Titelbild

Dieter Jähnig: Der Weltbezug der Künste. Schelling, Nietzsche, Kant.
Verlag Karl Alber, Freiburg 2011.
151 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783495481493

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Titelbild

Arne Zerbst: Schelling und die bildende Kunst. Zum Verhältnis von kunstphilosophischem System und konkreter Werkkenntnis.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2011.
440 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783770550678

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