Quer durchs Mittelalter

Die gesammelten Werke von Horst Brunner

Von Judith KeßlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Judith Keßler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist inzwischen vier Jahre her, dass Horst Brunner selbst eine große Anzahl seiner wichtigsten Aufsätze für den Band „Annäherungen“ sammelte und aktualisierte. Erklärtes Ziel dieser Ausgabe ist es, diese Texte erreichbar zu machen, da sie „weit verstreut“ und „teilweise an abgelegenen Orten“ erschienen seien und somit nur schwer zugänglich für den interessierten Leser. Wer also einen guten Überblick über das Werk Brunners haben möchte, dem ist mit diesem Band hervorragend gedient.

Rechtfertigt diese Feststellung aber eine so spät erscheinende Rezension? Wohl kaum. Was sie aber rechtfertigt, ist das Thema eines der neuesten Aufsätze in dieser Sammlung: nämlich die Frage nach dem Sinn der Geisteswissenschaften, die Brunner in seiner Abschiedsvorlesung zu beantworten versucht. Der Text dieser Vorlesung, mit dem Titel „Vom Nutzen der schönen Literatur und ihrer Erforschung“, ist dem Band vorangestellt. Die Geisteswissenschaften plagen sich schon lange mit diesem Problem herum: Wie kann man einer breiten Masse verständlich machen, dass unter anderem die Erforschung älterer deutscher Literatur von so großer Wichtigkeit ist, dass sie auch weiterhin finanziell gefördert werden muss? Innerhalb der Geisteswissenschaften zweifelt daran niemand, aber schon bei den Geldgebern wird es schwierig, den gesellschaftlichen Nutzen von Literaturwissenschaft überzeugend darzustellen. Denn es ist sicherlich von gesellschaftlich höherer Relevanz, die Bekämpfung einer schweren Krankheit mit Geldmitteln fördern, als zum Beispiel die Analyse der Gedichte von Walther von der Vogelweide.

Brunner bietet nun fünf Gründe für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der, wie er es nennt, „schönen Literatur“ an: die Möglichkeit zur geistreichen Unterhaltung, die Ausbildung unserer Sprach- und Stilfertigkeit, die Anleitung zur Bewältigung komplexer Strukturen, die Anregung unserer Phantasie und die Übung in Welt- und Menschenkenntnis. Ganz zum Schluss zeigt er die Bedeutung der Germanistik als Pflegerin und Erhalterin des nationalen sprachlichen und literarischen Erbes auf. Und damit legt er den Finger genau auf den wunden Punkt. Was nämlich nützt uns ein gesunder Körper, wenn der Geist nicht mehr mitmacht, wenn uns die Erinnerung fehlt, wer wir sind, was wir sind, und was uns dazu gemacht hat? Genau dafür brauchen wir die Geisteswissenschaften. Brunners Plädoyer für die Erforschung der schönen Literatur, und da ist er sicherlich nicht der Einzige, wird in unserer hochtechnisierten, auf Produktivität und Effizient ausgerichtete Gesellschaft daher mit jedem Tag, den die Menschen im Durchschnitt älter werden, wichtiger.

Wie ertragreich solch geisteswissenschaftliche Arbeit sein kann, zeigen dann die übrigen Beiträge in dem Sammelband. Wir begegnen merkwürdigen, kranichschnäbeligen Menschen im „Herzog Ernst“, wir reisen durch die Ritterwelt des „Parzival“, wir lesen „Walther“, singen Minnelieder, kämpfen zusammen mit Konrad von Würzburg ritterliche Turniere, erleben Tänze, Lieder und Gedichte, streifen kurz das Werk des Hans Sachs und beschließen diese farbenfrohe und facettenreiche Reise durch das Mittelalter mit einem ganz kleinen Teil Deutschlands, nämlich dem Frankenland und den „Frankenbildern in der deutschen Literatur des Mittelalters“. So wird die Vielfalt der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschen Literatur dem Leser angezeigt, es wird Interesse geweckt – selbst wenn es manchmal nur um ein kleines Detail geht, wie etwa die Klärung der Frage, was das wohl für ein Musikinstrument ist, das den seltsamen Namen „bek“ trägt und das der Spielmann in Wittenweilers „Der Ring“ erklingen lässt.

Dass die meisten der insgesamt 25 Beiträge nicht mehr ganz neu sind – der älteste stammt aus dem Jahr 1979 – merkt man ihnen kaum an; auch wenn man sich wünschen würde, dass schon am Anfang eines jeden Beitrags Jahr und Ort des Erstdrucks genannt wäre. Brunners Aufsätze sind meist relativ kurz gehalten, gut strukturiert, übersichtlich und sehr lesbar, und aus jedem spricht die Absicht, den Autor und/oder sein Werk nicht nur zu analysieren, sondern Personen und Inhalte vor dem inneren Auge der Leser lebendig werden zu lassen. Man liest ihn gern, und somit ist die Lektüre von Brunners Aufsätzen auch einem an mittelalterlicher Literatur interessierten Laienpublikum auf jeden Fall anzuraten. Hoffen wir mit Brunner, dass die seit Jahrhunderten immer wiederkehrenden Debatten um den Nutzen der Geisteswissenschaften bald keine Rolle mehr spielen, weil man sich endlich darüber einig ist, dass Literatur und Kultur ebensolcher Aufmerksamkeit und ebensolchen Wohlwollens bedürfen wie die exakten Fächer. Sein Sammelband liefert dazu einen wichtigen Beitrag.

Kein Bild

Horst Brunner: Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2008.
387 Seiten, 59,80 EUR.
ISBN-13: 9783503098439

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch