Von Gourmets und Geistern

„Ihre Nacht“ von Banana Yoshimoto beleuchtet das geheime Leben der japanischen Post-Bubble-Gesellschaft

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Original erschien das Buch über die romantische Begegnung von Yumiko und Shôichi unter dem Titel Kanojo ni tsuite“ („Über sie“) bereits 2008. Wie schon die Anthologie „Mein Körper weiß alles“ steht auch „Ihre Nacht“ im Zeichen des „Trost- und Heilungsbooms“; Banana Yoshimoto verspricht dem Leser eine literarische Kur, nach der er dem Leben vielleicht wieder positiver gegenüberstehen kann. So lautet zumindest die Botschaft, mit der sie seit einiger Zeit an ihre japanischen Fans herantritt. Der Diogenes Verlag hat seinerseits die Bibliotherapie als Vermarktungskonzept entdeckt und so entsprechen sich Text und Verlagsprogramm ideal. Wie man lernen kann, sein Trauma zu überwinden, sein Schicksal anzunehmen und sich von wohlmeinenden Mitmenschen aus einer sehr misslichen Lage helfen zu lassen, möchte Yoshimoto mit diesem Lehrstück okkulter Seelenheilung erzählen.

Genuss bis in alle Ewigkeit?

Eine typische Konstellation: einsames Mädchen und sensibler Junge – zwischen beiden ein geheimnisvolles Band. Die kürzlich verstorbene Mutter Shôichis hatte es ihm vor ihrem Tod zur Aufgabe gemacht, seiner Cousine Yumiko, die schon früh die Eltern verlor, beizustehen. Yumiko scheint sich in einer depressiven Phase zu befinden. Meist zieht sie sich zurück, vermeidet es, über eine belastende Vergangenheit zu sprechen und hat keine großen Erwartungen für ihre Zukunft, obwohl die Familie, erfolgreiche Esswarenhändler, sehr wohlhabend war. Während Shôichi, der ebenfalls eine Delikatessenfirma betreibt, weiterhin den Lebensstil der begüterten Klasse pflegt, typisch für die Bubble-Zeit in den 1980er–Jahren und für reiche Japaner noch länger praktikabel, scheint die junge Frau mehr oder weniger mittellos; sie wohnt temporär in einem kleinen schäbigen Apartment in Tôkyô. Hat ein Erbschaftsstreit Yumiko die finanziellen Mittel beschnitten und sie damit in die Prekarität getrieben? Vertritt die Protagonistin von „Ihre Nacht“ mit ihrem Abstieg also das neue „arme Japan“ und seine „verlorene Generation“, die von Verarmung bedroht und von Hoffnungslosigkeit gequält wird?

Bevor Antworten auf diese Fragen erfolgen, genießt man erst einmal wieder: Gemeinsame Kurzreisen in das komfortable Haus Shôichis in den Bergen von Nasu, Gespräche über italienische, französische oder spanische Leckereien. Die Bohnen des duftenden Kaffees, den man sich gönnt, sind selbstverständlich vom besten Laden, ein kühles Bier mundet köstlich, desgleichen die ausgezeichnet gewürzte Paella, Oliven und Wein schmecken ebenso, ein erfrischender Fruchtsaft stärkt jede Zelle des Körpers – ein mediterranes Licht schwebt über diesem Genussuniversum und vertreibt die japanische Düsternis.

Das Hexendiplom aus Europa oder ein okkulter Betriebsunfall

Yumikos Zukunft ist unsicher. Der Grund dafür liegt allerdings nicht in den schlechten Wirtschaftsbedingungen der Post-Bubble-Ära, sondern im Zerfall ihrer Familie. Grundkonflikt des Delikatessenimperiums sind Gier, Ehrgeiz und Machtstreben zweier Zwillingschwestern, die sich zudem als „Hexen“ betätigen. Yumikos Mutter betrieb den Lebensmittelhandel Konamiya, Atsuko, die Mutter von Shôichi, führte ein eigenes Geschäft. Beide übten sich in der okkulten Kunst, wobei Shôichis Mutter, die bei einer „chinesischen Lehrerin für weiße Magie“ ihre dunklen Kräfte zu bändigen gelernt hat, sie in positive Energien umsetzte, die Mutter von Yumiko sich aber in Séancen der Beschwörung von dämonischen Mächten hingab, um den Erfolg ihres Unternehmens zu steigern.

Die Affinität zum Okkulten ist das Erbe von Yumikos Großmutter, die sich lange mit esoterischen Lehren befasste, in Turin eine „Schule für weiße Hexen“ besuchte und dort sogar ein Diplom erwarb, um später in Japan eine neureligiöse Gemeinschaft zu gründen. Omas okkulte Ambitionen endeten jedoch mit einem bedauerlichen Zwischenfall: Die Teilnehmer einer Séance begingen Gruppenselbstmord. Kurz darauf verstarb die Verursacherin der Tragödie – ein Fluch liegt seither auf der Familie. Auch Yumikos Probleme sind offenbar auf das damalige Geschehen zurückzuführen.

Der arme Papa und ein guter Junge – Horror mit Banana

Banana Yoshimoto wartet in „Ihre Nacht“ mit einem Genre- und Motivmix auf, der Mädchenmanga, Magazine für schöneres Leben mit den Schwerpunkten Essen und Reisen, Geistergeschichten, Horrorfilme, Videospiele („Resident Evil“), Glücksratgeber und die Esoterik-Ecke von Frauenzeitschriften umspannt. Die Message ist die einer Konvivalität, die sich im Bild der „doppelten Umarmung“ durch den Mitmenschen und die Natur (diese Metapher erinnert an den Kosmos der Frida Kahlo) manifestiert, sowie die des Erlebens verfeinerter Sinnesfreuden, wobei die sexuelle Ebene allerdings bedingt durch einen puritanischen Impuls ausgeklammert bleibt – von den allzu animalischen Anteilen der menschlichen Existenz distanziert sich die Hauptfigur.

Im wesentlichen geht es darum, die Protagonistin von ihrer Verlorenheit und ihrer Seelenpein zu befreien. Dies gelingt mit Hilfe eines einfühlsamen Begleiters, mit dem sie die schmerzvolle Vergangenheit und die Beziehung zu ihrer machthungrigen Mutter aufarbeiten kann. Trotz aller erlittener Unbill muss Yumiko ihren Frieden machen und sich an dem Schönen freuen, das sie erlebt hat.

Die Autorin vermittelt neben ihrer Trostbotschaft, die sich so geschmeidig an die Emotionsrezeptoren des Leserhirns anhaften mag, wie die thailändischen Nudelsuppen die Kehlen der Konamiya-Kunden herabgleiten, erstaunlich konservative Ansichten: Es sei nicht gut, wenn Frauen die ihnen eigene Dämonie nicht beherrschen lernen, wenn sie zu erfolgreich Geschäfte betreiben, ihre Männer tyrannisieren, die Kinder vernachlässigen und letztlich ihre Familien zerstören. Mit Wehmut erinnert sich Yumiko an ihren Vater, dem es nicht gelungen ist, die Familie zu beschützen; als sie sein Grab besucht, erfährt sie endlich, warum Tante Atsuko sie nicht vergessen konnte und ihr in Gestalt des direkten und aufrichtigen Shôichi Hilfe spenden wollte.

Darüber, dass Yumiko am Ende der „Nacht“ ihren isolierten Zustand verlassen darf und Hoffnung schöpft, kann man sich als Leser erfreut zeigen. Die im Text kaum hinterfragten Mitteilungen Banana Yoshimotos hinsichtlich der Frauenrolle in der japanischen Gesellschaft sind dagegen wenig inspirierend – sie dem gängigen Reflex folgend als postmoderne Ironie und wissende Inszenierung von Kitsch aufzufassen fällt schwer. Leitmotive wie „Karrierefrauen ruinieren die Familie“, „gute Jungen retten traurige Mädchen“ lesen sich bei ihr nicht wie ein hintersinniges Spiel mit Verhaltensnormen und Erwartungshaltungen, sondern wie literarische Repräsentationen der japanischen Gesinnungswerbung, die etwa die medienstrategische Vereinigung AC Japan mit ihren nationalpädagogischen Ambitionen produziert.

Man wundert sich schon, welche Intentionen Yoshimoto verfolgt, wenn sie in der „Nacht“ feministische Positionen unterwandert und gute Mütter für Japans Söhne und Töchter anmahnt – die bessere Mutter ist sowieso die eines Sohnes. Zum Ausgleich bringt die Autorin noch etwas Kritik gegenüber dem Macht- und Besitzdenken der modernen Zivilisation zum Ausdruck. Sollte die Post-Bubble-Gesellschaft tatsächlich die Revitalisierung der „gesunden Familie“ anstreben und einer als westlich deklarierten Leistungsideologie, die die Menschen verformt, eine Absage erteilen? Dann aber bitte mit einem kühlen Bier in der Hand und einer italienischen Köstlichkeit in Reichweite.

Auf den letzten Seiten darf man sich noch im Sinne des bekannten Regisseurs Shyamalan auf eine Überraschung gefasst machen. Ansonsten zählt „Ihre Nacht“ eher zu den schwächeren Texten der Autorin.

Titelbild

Banana Yoshimoto: Ihre Nacht. Roman.
Übersetzt aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg.
Diogenes Verlag, Zürich 2012.
208 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783257068160

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