Frühe Sprachkunst und Mord

Zu Jürgen Rathjes Edition der Werke von Barthold Heinrich Brockes

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eduard Mörike schreibt in seinem Distichon „Brockes“: „Führe mich, Alter, nur immer in deinen geschnörkelten Frühlings-Garten! Noch duftet und taut frisch und gewürzig sein Flor.“ Was meint er mit diesen Zeilen? Einen Eindruck von dem Inhalt und der Tragweite der zwei Zeilen vermittelt die vorliegende Werkedition, die unter dem Titel „Selbstbiographie. Verdeutschter Betlehemitischer Kinder-Mord“ erscheint, aber deutlich mehr enthält, als nur den „Betlehemitischen Kinder-Mord“. Etwa die Zeilen aus „Herrn B. H. eigene Gedichte“: „Die Gegenden sind meistens wüst und wild, / Mit steter Dämmerung und Schatten angefüllt. / Die Einsamkeit allein / Scheint hier Bewohnerin zu seyn.“

Barthold Heinrich Brockes wurde am 22. September 1680 in Hamburg geboren und verstarb ebenfalls dort am 16. Januar 1747. Er war Jurist, Träger von hohen Ämtern und vor allem aufgrund seines Erbes und seiner Heirat finanziell unabhängig. Als Schriftsteller der frühen Aufklärung und engagierter Streiter für die deutsche Sprache sollte er in die deutsche Literaturgeschichte eingehen. Zu seinen Hauptwerken als Autor und Übersetzer gehören sicherlich die Übersetzung beziehungsweise Nachdichtung der „Strage degli Innocenti“ (1620) des italienischen Barockdichters Giambattista Marino (1569-1625), der in dem vorliegenden Band enthaltene „Betlehemitischer Kinder-Mord“. Darüber hinaus findet man noch eine Sammlung von Texten, die einen Einsteig in das Werk und letztendlich auch in die Welt von Brockes ermöglichen. Es ist die Welt einer frühen Aufklärung, eines frühen 18. Jahrhunderts, das sich noch mit Emanzipation, individueller Freiheit und der Gleichberechtigung von Frauen sehr schwer tut.

Und so ist es denn vor allem die leichte, poetische Sprache, die man an mancher Stelle seines Werkes – und auch im vorliegenden Band – in Vollendung finden kann. Seine Virtuosität hat in der deutschen Sprache keinen Vorgänger. Er beschäftigt sich mit der Natur, schreibt poetische Verse über Naturschönheit und zeichnet grüne Idyllen mit Worten. Dass dies in einer Zeit passiert, wo die Frühaufklärung gerade das Mikroskop und andere moderne technische Errungenschaften entdeckt, erscheint zwar zuerst anachronistisch, weist aber in der sprachlichen Gestaltungsdichte letztendlich über seine Zeit hinaus. Brockes‘ Naturbeschreibung wird nicht zur Wissenschaft, sondern zur Poesie. Er ist der Gegenpol, die andere Seite der Aufklärung, das Gegengewicht. Die „Einleitung“ zu seinem Werk liegt in der ordentlichen Edition nach den Ausgaben letzter Hand von Jürgen Rathje vor, enthält seine „Selbstbiographie“, die Nachdichtung des „Bethlehemitischen Kindermords“, gesammelte Aufsätze und eine Sammlung verstreut erschienener Gedichte. Erläuterungen, Lesarten und ein Editionsbericht schließen den Band ab. Die Edition bietet die Möglichkeit, einen der großen Sprachartisten des 18. Jahrhunderts neu zu entdecken. Man darf auf die weiteren Bände gespannt sein.

Titelbild

Barthold Heinrich Brockes: Selbstbiographie. Verdeutschter Betlehemitischer Kinder-Mord. Werke 1.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
780 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-13: 9783835309821

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