Im El Greco-Fieber

Beat Wismer hat eine außerordentliche Publikation über El Greco und die Moderne vorgelegt

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach drei Jahrhunderten wurde El Greco, der Altmeister des Manierismus, wieder von der künstlerischen Avantgarde kurz nach 1900 entdeckt. Der exzentrische Grieche in Toledo malte mit „innerem Auge“, Figuren und Ereignisse durchdringen sich bei ihm in hintergründigen Bezugssystemen, Spannungen erzeugen hochgeladene Kraftfelder. Picasso hat in seinem damals einen Skandal auslösenden Gemälde „Les Demoiselles d’Avignon“ (1916) radikal das Thema der Vision in El Grecos „ Die Öffnung des fünften Siegels“ profanisiert. Seine fünf Frauen mit ihren maskenhaften Gesichtern und ihrer statuarischen Haltung präsentieren sich aus verschiedenen Perspektiven in der Spanne von Nähe und Ferne. Der Körper der einen Figur rechts ist zwar nach hinten gewendet, doch ihren Kopf hat sie nach vorn gedreht und irritierend schaut sie den Betrachter an. Auch Cézanne hatte in seinen „Großen Badenden“ (1898), an denen er sieben Jahre arbeitete, Körper geschaffen, die den Raum gliedern: Sie sind in Dreiecksform angeordnet: Die Gruppen der Badenden auf beiden Seiten des Bildes ergeben zwei Dreiecke, über die die Wipfel der Bäume ein drittes Dreieck – einer gotischen Kathedrale nicht unähnlich – setzen. El Grecos Erlösungssehnsucht trifft auf das ernüchterte Endlichkeitsbewusstsein Cézannes. Max Beckmanns frühe „Kreuzabnahme“ (1917), in dem sich der leichenstarre Körper Christi in fahler Farbigkeit mit weit ausgebreiteten Armen diagonal über die Bildfläche erstreckt, lässt ebenso an El Grecos Beschwörung von Tod und Vergänglichkeit denken wie die „Beweinung Christi“ (1913) Heinrich Nauens. Ludwig Meidners apokalyptische Landschaften wirken wie späte Kommentare auf die Bilder des spanischen Altmeisters. Egon Schieles verdrehte Figuren weisen direkt auf El Grecos zerfließende Körperschemen zurück. Die Diskrepanz der Elemente, aus denen sich ein Bild zusammensetzt, die Freude am hybriden Gedankenspiel, die Lust an der Verwandlung der menschlichen Figur bis zum Grotesken und Dämonischen – die Spuren dieses Vorläufers der Moderne, sind vielerorts wahrnehmbar.

Picasso ist ein markantes Beispiel für die Wiederentdeckung El Grecos – wie überhaupt der spanischen Malerei des Siglo de Oro – europaweit. 1874 waren die ersten Gemälde El Grecos für deutsche Sammlungen erworben worden. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erkannte man in diesem exzentrischen Künstler einen Vorläufer der Moderne.

100 Jahre nach der ersten enthusiastischen Begegnung mit seinen Werken in München und Düsseldorf findet jetzt die erste El Greco-Ausstellung in Deutschland überhaupt statt (bis 12. August). Es geht einmal – so Beat Wismer, der Generaldirektor der Stiftung Museum Kunstpalast in Düsseldorf, die dieses gewaltige Projekt realisierte, – um El Grecos Rolle in der frühen Moderne und zum anderen um eine monografische Ausstellung des Malers mit einer repräsentativ gültigen Werkauswahl. Ebenso verdienstvoll wie die Ausstellung ist die weit über ein Begleitbuch der ausgestellten Exponate hinausgehende wissenschaftliche Publikation, die unterschiedlichen Aspekten der El Greco-Rezeption in der Moderne nachspürt und von einem internationalen Team von Forschern und Museumsleuten verfasst wurde.

Ein erster Themenkomplex beschäftigt sich mit der Werkentwicklung von Domenikos Theotokopoulos, genannt El Greco, und dem heutigen Forschungsstand. Fernando Marias (Madrid) beschreibt die Stellung El Grecos in der Geschichte der Malerei. Mit seinen komplexen Kompositionen, leuchtenden Farben, Licht- und Schattenspielen, seiner Umsetzung von Transparenz und Spiegelungen, seiner naturalistischen Darstellung von Stoffen, Wolken und Nebel, der Schönheit seiner Frauen und Eleganz seiner Männer, seiner überbordenden Vorstellungskraft bei der Darstellung des Metaphysischen und seinem Vermögen, visuellen Fiktionen malerisches Leben einzuhauchen, hat der Grieche von Toledo Einheimische wie Fremde in Staunen versetzt. Als Ikonenmaler auf der griechisch-venezianischen Insel Kreta ausgebildet, verwandelte er sich in einen elaborierten und anspruchsvollen Künstler des Abendlandes. Er wurde nach seiner „Rehabilitierung“ um 1900 zu einem Universalmaler und gleichzeitig zum Begründer der spanischen Malerei erhoben, zu einem Visionär, der die modernen Strömungen in seiner expressiven Freiheit vorwegnahm. Für El Greco bedeutete Schönheit Größe, Stilisiertheit, Komplexität in der Komposition, perspektivische Verkürzungen und die Lebendigkeit der „Figura Serpentinata“. Beide Welten – die irdische und die göttliche – verschmolzen in den Darstellungen der Epiphanie, in denen die Gottheit die irdische Welt betrat.

Carmen Garrido (Madrid) stellt Überlegungen zum Expressionismus in El Grecos Malerei an. So wie El Greco von den venezianischen Malern jene formalen und materiellen Elemente übernahm, die ihm als Ausgangspunkt für die Entwicklung seiner eigenen Bildsprache dienten, sah die expressionistische Bewegung in El Greco einen Ausgangspunkt für ihre Suche nach neuen Wegen zu Sinn und Zweck der Malerei.

Annette Schaffer (Bern) beschäftigt sich mit dem Gemälde „Laokoon“ (um 1610 -1614), das 1911 in München zum ersten Mal gezeigt wurde. El Greco hinterließ nach seinem Tode 1614 drei großformatige Gemälde mit dem Laokoon-Sujet. Als einziges ist heute das in der National Gallery in Washington erhalten geblieben. El Greco hatte genaue Kenntnisse der 1506 in Rom ausgegrabenen und in den Vatikan überführte Laokoon-Gruppe, er selbst verzichtete aber auf narrative Attribute und ein klar definiertes Ambiente, dafür werden die anschaulichen Beziehungen zwischen den Figuren umso sichtbarer. Die sich wiederholenden Schrägen und die wellen- und kreisförmigen Bewegungen geben seiner Gruppe der Laokoon-Figuren ein rhythmisiertes Ganzes. El Greco zeigt das mythische Geschehen vor den Toren Toledos. Toledo sollte hier wohl in die Rolle der Mutterstadt Rom versetzt werden.

Bildbesprechungen einzelner Gemälde und Werkgruppen El Grecos, wie des Heiligen Franziskus, der „Unbefleckten Empfängnis“, büßender Heiliger, der Heiligen Familie, der „Entkleidung Christi“, der Apostelserien, des „Laokoon“, der „Öffnung des fünften Siegels“, der „Heimsuchung“, der Bildnisse von Zeitgenossen, der Diego de Astor zugeschriebenen Reproduktionsgrafiken und so weiter., schließen diesen Komplex ab.

Ein zweiter Themenbereich ist El Greco und der frühen Moderne vorbehalten. Wie wurde El Greco von der und für die frühe Moderne in Deutschland entdeckt, fragt Beat Wismer (Düsseldorf). Während sich die anderen Autoren mit einzelnen Aspekten zu El Greco und der Moderne in der Malerei befassen, will er von unterschiedlichen Seiten in diese vielschichtige Konstellation einführen. 1874, im Geburtsjahr des Impressionismus, wurden von dem Bonner Ordinarius für Kunstgeschichte Carl Justi mit der Dresdner „Heilung der Blinden“ und der von ihm selbst erworbenen Version der „Entkleidung Christi“ erstmals Bilder in Deutschland als Werke von El Greco erkannt. Zuerst fanden El Grecos Porträts und die venezianischen Werke Aufnahme in öffentliche Sammlungen. Picasso hatte schon 1899 mit seinem „Porträt eines Unbekannten“ einen bildnerischen Dialog mit seinem Wahllandsmann aufgenommen, den er dann über die Blaue und Rosa Periode und den Kubismus hinaus bis zu seinem Spätwerk in Intervallen fortsetzen sollte.

Julius Meier-Graefes „Spanische Reise“ (1909) wurde dann zum Auslöser einer breiten El Greco-Begeisterung in der frühen Moderne. „Wie der Blitz“ beschrieb der anerkannte Kunsthistoriker damals seine Begegnung mit El Greco in Madrid. Schon in seiner Publikation „Impressionisten“ hatte er El Greco als Modernen und Paul Cézanne als dessen unmittelbaren Nachfolger bezeichnet. Denn Cézanne eröffnete erst das Verständnis für El Greco, obwohl dieser nie ein Original des alten Meisters gesehen hat. Von dem jungen Edwin Scharff stammt dann wohl die erste Kopie eines deutschen Künstlers nach El Greco. Er war damals wegen Velazquez nach Madrid gereist und konvertierte zu El Greco. Beat Wismer führt mit Karl Hofer, Emil Filla, Antonin Prochazka, Franz Marc, August Macke, Robert Delaunay, Otto Morach, Heinrich Maria Davringhausen, Marcel Duchamp, Walter Ophey Beispiele an, wie sich der alte Meister und die Modernen über drei Jahrhunderte hinweg die Hand reichten. Dabei gelangte selbst Vincent van Gogh, bei dem keine Auseinandersetzung mit El Greco festzustellen ist, in einer „Pietà“, in der er sich auf eine Zeichnung von Delacroix bezieht, die ihrerseits wiederum auf die Skulpturengruppe der Florentiner Pietà von Michelangelo anspielt, zu einer malerischen Umsetzung des Themas von El Greco.

Mehrdeutigkeiten, produktive Missverständnisse und konstruierte Perspektiven in der El Greco-Rezeption stellt Michael Scholz-Hänsel (Leipzig) heraus, während er sich zusammen mit Birgit Thiemann der Wiederentdeckung El Grecos in Spanien und der „Grecomania“ im Werk Picassos zuwendet. Veronika Schroeder (München), die vor 15 Jahren eine Untersuchung zu El Grecos Bedeutung für den deutschen Expressionismus verfasste, setzt ihre Forschungen zu diesem Thema fort. Martina Padberg widmet sich der Rezeption E Grecos im Kontext einer „Neuen religiösen Kunst“ und Raimund Stecker (Duisburg) stellt Betrachtungen an, wie durch Wilhelm Lehmbruck und Otto Gutfreund „ein helles Licht“ auf El Greco fällt.

Der dritte Abschnitt gilt El Grecos Werken in Deutschland und ihrer Rezeption durch die Kunstgeschichte; dabei werden Sammler, Kunsthistoriker und Museen einbezogen. Michael Scholz-Hänsel beleuchtet El Greco in seinem historischen und künstlerischen Umfeld. In einem weiteren Beitrag gibt er unter dem Titel „Grecomanie“ eine Chronologie der El Greco-Rezeption. Leticia Ruiz Gomez (Madrid) beschäftigt sich mit El Greco im Museo del Prado, Elisabeth Hipp (München) mit El Greco in München, 1909-1911, Teresa Posada Kubissa (Madrid) mit den Kunsthistorikern Carl Justi, August L. Mayer und Max Dvorak und deren Suche nach El Greco, Veronika Schroeder mit Meier-Graefes El Greco-Bild, Birgit Thiemann mit dem baskischen Maler Ignacio Zuloaga als Sammler und Vermittler El Grecos, Istvan Nemeth (Budapest) mit der Ausstellung der Sammlung von Marczell von Nemes in Budapest, München und Düsseldorf (1910-1912) und Judith F. Dolkart (Merion/Pennsylvania) mit dem El Greco-Bestand der Barnes Foundation.

Ein Verzeichnis der in Düsseldorf ausgestellten Werke und eine Auswahlbibliografie schließen das abbildungsreiche, fundamentale Werk ab.

Titelbild

Beat Wismer (Hg.): El Greco und die Moderne. Anlässlich der Ausstellung "El Greco und die Moderne", Museum Kunstpalast, Düsseldorf, 28. April - 12. August 2012.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2012.
414 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783775733267

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