Schicksal einer Immigrantin

„Die Erdfresserin“ von Julya Rabinowich – „eine erstarrte Geschichte vieler, vieler Frauen“

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der bei Deuticke erschienene dritte Roman von Julya Rabinowich „Die Erdfresserin“ ist ein vielseitiges, bemerkenswertes und unbequemes Buch. Der 236 Seiten starke Roman besteht aus zwei Teilen – „Davor“ und „Danach“ –, die ihrerseits insgesamt zwanzig Kapiteln vereinen. Für die Deutung des Romans ist nicht unwesentlich zu erwähnen, dass jedem Teil ein Epigraph vorangestellt ist: als erstes ein Zitat aus dem Song „I wanna be your dog“ des US-amerikanischen Punkrockers Iggy Pop und für den zweiten Teil der Titel des Songs „Fire on Babylon“ der irischen Sängerin Sinéad O’Connor.

Der Roman erzählt die Geschichte einer Frau, Diana, die aus einer ehemaligen Sowjetrepublik stammt und im goldenen Westen als Prostituierte ihre zuhause verbliebene Familie durchzubringen versucht. Eigentlich ist sie studierte Regisseurin, findet aber in ihrer Heimat keine für das Leben ausreichende Arbeit, vor allem da sie für ihren geistig behinderten Sohn teure Medikamente benötigt. So wird dem Leser plausibel dargestellt, warum Diana illegal in den Westen gelangt und sich prostituiert. Bei genauem Hinsehen wird man aber feststellen, dass das Geld für die benötigte Medizin, die Heizung und den Anbau des Hauses eigentlich nur der vorgeschobene Grund ihrer Emigration sind. Der eigentliche Grund ist der Konflikt zwischen ihr und ihrer Mutter oder vielmehr zwischen ihr und ihrem Vater, den sie nicht kennt, der die Familie – seine Frau und zwei kleine Kinder – von heute auf morgen verließ und nie wiederkehrte. Diana, das „Vaterkind“, kommt mit diesem Verlust nicht zurecht. Die Sehnsucht nach dem Vater wird ihr zum Verhängnis: „In jedem Aspekt eines Mannes, der mir begegnet, treffe ich ihn wieder und wieder, eifrig wie eine Gottesdienerin, die in den Ikonen ihren Heiland findet, in jeder Ikone denselben. In jedem Mann finde ich den Vater und suche doch das Kind.“

Bereits als rebellisches Kind lebt sie stellvertretend die Emotionen ihrer Mutter aus, die diese sich nicht leisten kann und nur funktioniert. Diana widersetzt sich ihrer Mutter, studiert, zieht in eine Großstadt, aber ihre Emanzipation von ihrer Mutter gelingt ihr nicht, weil sie einen behinderten Sohn bekommt und auf den Wohnraum und die Unterstützung durch die Mutter angewiesen ist.

So wie von Dianas Vater jegliche Spur fehlt, so fehlt auch jeder Hinweis auf den Vater ihres Sohnes. Über zwei Generationen fehlen die Männer. Es ist keine Zufälligkeit in diesem Roman Julya Rabinowichs, es ist vielmehr die Fortsetzung der Männer-Frauen-Konstellation sowohl in ihrem autobiografischen Roman „Spaltkopf“, als auch eine Parallele zu vielen anderen interkulturellen Werken. Der behinderte Sohn Dianas ist im Kontext der fehlenden Vater- und Großvaterfiguren zu sehen: Er symbolisiert die Implosion der Gesellschaft, die aus dem Gleichgewicht geratenen Lebensverhältnisse, die sich sowohl auf die gesellschaftlich-politische Ebene als auch auf die familiären Verhältnisse auswirken. Da Diana sich zu vielen Konflikten stellen müsste, ergreift sie die Flucht in die Fremde. Sie handelt nicht anders als ihr Vater, der ebenfalls wegging: „Abwesend darf ich sein, so abwesend wie mein Vater.“ Der Unterschied besteht aber darin, dass sie immer wieder zurückkehrt, um Geld für ihre Mutter und ihren Sohn zu bringen.

In Wien begegnet Diana neben vielen Freiern zwei Männern, durch die Julya Rabinowich ihre Hauptfigur in neue Lebenssituationen versetzt und darin die männlichen Figuren des westlichen Typus inszeniert. Der eine ist Leopold Brandstegl, ein Polizist, der sie bei einer Razzia in einem Lokal, wo Diana einen Streit mit einem Freier austrägt, kennen lernt. Er ist kein Engel und kein Held, der eine illegale Prostituierte vor der Abschiebung bewahrt. Er ist ein älterer, von der Exfrau verlassener, von den Arbeitskollegen nicht ernst genommener und wohl seit einiger Zeit todeskranker, einsamer Mensch, der um seinen Zustand weiß und sich Dianas als kostenlose Putzfrau, Pflegerin, Seelen- und Leibtrösterin bedient. Da ihre Deutschkenntnisse ausreichten, um Leo im starken Dialekt den Nachbarn erklären zu hören, dass sie eine billige Putzfrau sei, realisiert sie, welche Rolle ihr von ihm zugedacht ist. Sie mobilisiert ihre durchaus kriminelle Energie und bedient sich seines Hab und Guts. „Vom Winterbeginn bis zum Ende des Sommers“ lässt sie ihn in ihr Leben, um es dann zu bereuen: „Und jedes Mal muss ich Menschen verbergen und abschütteln, die meine Wege kennenlernten, keiner soll sich je an meine Fersen heften können, nie wieder soll mir jemand so nahe kommen, wie es Leo in seiner Ahnungslosigkeit gelungen ist, der dumme Leo mit seiner kleinen Welt rund um sein stinkendes Bett.“ Nicht umsonst vergleicht Diana den kranken und hilfsbedürftigen Leo mit ihrem behinderten Sohn: in Leo als Männerfigur fällt für die Diana die Hoffnung anzukommen, Fuß zu fassen. Sie ist Getriebene, die keinen Halt findet. Die als Kind erfahrene Lieblosigkeit und die nicht geklärten Konflikte fordern sie über die Grenzen ihrer Kraft hinaus.

Nach dem Tod von Leo besucht Diana sein Grab und erleidet eine Psychose: Sie fängt an, sich die lehmige Erde in den Mund zu stopfen. Hier lässt nun Rabinowich ihren Roman beginnen: Der Leser begegnet ihr in den Therapiesitzungen mit Dr. Petersens im Spital einer wohltätigen Stiftung. Seine Fragen an sie sind jedem der 17 Kapitel des ersten Teils „Davor“ vorangestellt. In diesem rekapituliert die Ich-Erzählerin Diana ihre ganze Lebensgeschichte.

Der zweiten Teil, „Danach“, markiert die Enttäuschung Dianas im System, das angesichts ihrer versagt, ihr keinen Halt gibt, sie hinausdrängt und sie weiter treiben lässt: Da sie nicht „wenigstens vergewaltigt worden“ ist, hat sie keine Aussichten auf Asyl in Österreich. Das Scheitern des goldenen Westens, manifestiert sich für Diana in der Figur des Dr. Petersens: „Ich erinnere mich an seine sauberen Worte, die er mir ungebeten ins Ohr träufelte, die ich versucht habe zu glauben, die ich sogar kurz zu glauben schaffte […], die so vernünftigen sauberen Worte, diese Lügen, die so wenig wert gewesen sind wie die Lügen meiner Mutter, nur besser verborgen im Nebel seiner Arzneien, sein Nebel war schwerer zu durchschreiten als ihrer“.

Als Diana von ihrer Schwester von der Einweisung ihres Sohnes in die Anstalt für psychisch Kranke erfährt, flieht sie aus dem Spital, um nach Hause zu gelangen. Dies gelingt ihr nicht, sie irrt durch fremde Städte und Länder, hungert, nächtigt mit wilden Tieren, erleidet Neurosen und halluziniert. Diese Schilderungen sowie ihre Beschwörungen eines Golems können durchaus surrealistisch gelesen werden, aber ist es nicht viel mehr ihre Sehnsucht nach Liebe, nach ihrem Vater, den sie im Golem herbeisehnt? Sie frisst Erde und denkt an perfekte runde Laibe des russischen Schwarzbrotes, das ihre Mutter gebacken hat. Sie vereint sich mit dem lehmigen Körper der Erde und trägt so den Kampf mit der Wirklichkeit, ja mit dem Tod aus: „Ich habe den Beerdigungsritus umgedreht, nichts geht in die Erde hinaus, aber es kommt etwas zu mir, etwas, das mir gehört.“

In diesem Buch erzählt Rabinowich die Geschichte einer starken Frau in zwei schwachen Gesellschaften. Diana ist eine Exzentrikerin, die sich aus ihrem Heimatland wegwirft und ihrem Gastland vorwirft. Ihre Prostitution ist die gegen sich selbst, gegen ihre Körperlichkeit gerichtete Aggression. Sie braucht die schwächeren und bedürftigen – ihren Sohn, ihre Mutter und Schwester, Nastja und Leo –, um stark zu sein, um zu leben. Kann sie nicht mehr gebraucht werden, kein Geld beschaffen, keinen Nutzen abwerfen, wird sie selbstzerstörerisch, sie implodiert.

Feinfühlig, beinahe psychologisch geschult verdichtet Rabinowich das Dickicht dieses Schicksals, in das vermutlich nicht nur von ihr gedolmetschte Therapiesitzungen einflossen, sondern auch das Schicksal der irischen Sängerin Sinéad O’Connor durchaus Pate gestanden haben könnte. Außerdem lassen sich intertextuelle Bezüge zu Dostojewskis „Idiot“ und „Schuld und Sühne“ sowohl auf der thematischen als auch motivischen Ebene feststellen. Die Sprache des Romans zeichnet sich durch Leichtigkeit und Lebendigkeit aus. Zum einen sind es die vielen Aneinanderreihungen, Vergleiche, Aufzählungen und Wiederholungen, die den Sprachfluss mitgestalten, zum anderen formt die Körperlichkeit, ja die Weiblichkeit die Sprache dieses Romans: „Die Sprache ist Teil meiner Haut, Teil meiner Schritte, sie wechselt, wie meine Identität gewechselt werden muss.“

„Die Erdfresserin“ von Julya Rabinowich ist für die österreichische Gesellschaft das, was Irena Brežnás „Die undankbare Fremde“ für die Schweizer Gesellschaft ist: ein unbequemes aufwühlendes und trauriges Buch, das das Schicksal einer fremden Immigrantin im satten und gleichgültigen Europa schonungslos zur Schau stellt.

Titelbild

Julya Rabinowich: Die Erdfresserin. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012.
236 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783552061958

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