Distanz und Nähe

Elizabeth Strout erzählt vom Leben unterm Wattebausch

Von Anette MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf den ersten Blick scheint die Welt von Isabelle Goodrow und ihrer sechzehnjährigen Tochter Amy klein, normal und erschreckend ereignislos. Ihr Leben verläuft so ruhig wie der Fluss, der sich durch die amerikanische Kleinstadt Shirley Falls wälzt. Doch die Autorin Elizabeth Strout, die mit "Amy und Isabelle" ihr Debut vorgelegt hat, erlaubt uns einen fast voyeuristischen Blick hinter die Fassade. Zum Vorschein kommt eine zwar vertraute, aber doch seltsame und erstaunliche Welt. Strouts Themen sind das alltägliche Leben und die großen und kleinen Katastrophen, die die Menschen meistern.

Es ist Juni, der Beginn eines drückend heißen Sommers, der die Stadt wie von Watte zugedeckt scheinen lässt, als Isabelle die wunderschönen blonden Haare ihrer Tochter mit einer Haushaltsschere abschneidet und ihr einen Job im Holzwerk verschafft, wo sie als Sekretärin arbeitet. Für beide könnte die daraus resultierende Situation nicht unerfreulicher sein, da sie sich neuerdings entfremdet haben, nachdem sie jahrelang in völliger Fixierung aufeinander lebten.

Diese Fixierung liess beide innerlich vereinsamen - die unsichere, jungfernhafte Isabelle hat keine Freunde, da sie sich den anderen Frauen in ihrer Firma überlegen fühlt, und Amy ist zu schüchtern, um außer der wilden, schwangeren Stacy Freunde zu finden. Beide Frauen sind erfüllt von geheimen Sehnsüchten. Isabelle möchte geliebt werden und zum exklusiven Kreis der Lokalprominenz gehören, die den Kirchenverein und das soziale Leben der Kleinstadt bestimmen; Amy wünscht sich seit Jahren eine andere, aufgeschlossenere Mutter und schämt sich gleichzeitig dieses Gedankens. Mit dem Sommer und dem neuen Mathematiklehrer Mr. Robertson kommt Bewegung in ihr Leben.

Mr. Robertson schenkt Amy bald mehr Aufmerksamkeit als seinen anderen Schülern, fordert ihren Intellekt heraus und verführt sie schließlich. Amy verwirren die Komplimente des Lehrers zunächst, dann findet sie Gefallen daran. Strout gelingt es, Amys Lehrer liebenswürdig und verabscheuenswert zugleich darzustellen; sie lässt den Leser nicht vergessen, dass Robertson eine ihm Anvertraute verführt und versteht es doch, ihn attraktiv erscheinen zu lassen.

Amy, die sonst so Naive und Schüchterne, ist nicht ausschließlich Verführte, und entwickelt erstaunlichen Einfallsreichtum, um die Zeit nach der Schule bis zur Heimkehr der Mutter mit Mr. Robertson im Wald zu verbringen. "Du wirst immer geliebt werden.", teilt er Amy an einem dieser Nachmittage mit und macht sie von sich abhängig.

Das eigentliche Drama beginnt, als Isabelles heimliche Liebe, ihr verheirateter Chef Mr. Clark, Amy und Robertson im Wald beobachtet und Isabelle informiert. Ihre Reaktion ist grausam: Empört über die Ungerechtigkeit der Welt, die Amy Liebe erfahren lässt und sie nicht, schneidet sie Amy in blinder Wut die Haare ab und jagt den Lehrer aus der Stadt. Nichts mehr als einen Skandal fürchtend, muss Isabelle erkennen, dass sie ihr Leben mit einem Mädchen teilt, das nicht dem Bild entspricht, das sie von ihrer Tochter hatte, und deren sexuelles Erwachen eine nie gekannte Wut in der Mutter entfacht.

Amy nimmt die Strafe nach außen scheinbar ungerührt hin, während ihr innerlich vor der erneuten Isolation im eigenen Heim graut. Fast sprachlos leben Mutter und Tochter nebeneinander her, beide von unerfüllten Sehnsüchten getrieben und von der Angst vor der Enthüllung ihrer jeweiligen Geheimnisse geplagt. Es sind diese Abgründe, die dem Roman seine Spannung geben und ihn vor der Banalität bewahren.

Sowohl Amy als auch Isabelle wachsen in dieser Zeit der Entfremdung über ihre Unsicherheiten und Ängste hinaus - Isabelle findet nach mehr als fünfzehn Jahren Freundinnen in der Stadt, die sie stets außen vor ließ, und muss dabei einige Vorurteile abbauen. Sie erkennt, dass es auch im Leben anderer Brüche und Leid gibt. Strout gelingt es dabei, die Menschen, welche die Goodrow-Frauen umgeben, mit ihren eigenen Geschichten einzuweben, Mutter und Tochter einen Platz zwischen ihren Nachbarn und Kollegen zu geben und Komplexität zu erzeugen.

Amys Entwicklung vom kleinen Mädchen, das krampfhaft um das Wohlwollen der Mutter buhlt, zu einer jungen Frau, die einen Sinn für ihren eigenen Willen und ihre Persönlichkeit entdeckt, ist glaubhaft dargestellt. Amy mag in der Wahl ihrer Mittel irren, dennoch wird deutlich, dass ihr Verhalten aus einer Hilflosigkeit heraus geboren ist - einer Hilflosigkeit, die durchaus ihrem Alter entspricht.

Sie verstrickt sich in neue Lügen und entfernt sich noch weiter von Isabelle, um schließlich eine Erfahrung zu machen, deren Grausamkeit sie ihren Lebtag nicht vergessen wird. Es ist dieses Ereignis, das Isabelle einen Schritt auf ihre Tochter zu machen lässt und das zum ersten Mal Menschen in ihr Heim und ihnen nahe bringt.

Mutter-Tochter-Romane laufen schnell Gefahr, ins Triviale abzudriften, aber Strout gelingt es, diese Klippen zu umschiffen, indem sie sich nicht klaustrophobisch auf ihre Hauptfiguren konzentriert, sondern zugleich das Porträt einer Kleinstadt entwirft, deren Bewohner mit den vielfältigsten, ganz eigenen Stolpersteinen des Lebens umzugehen haben.

Titelbild

Elizabeth Strout: Amy & Isabelle. Aus dem Amerikanischen von Margarete Längsfeld.
Piper Verlag, München 2000.
413 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3492042007

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