Über Virginia Woolfs Buch: „Augenblicke des Daseins. Autobiografische Skizzen“

Von den Mühen der Erinnerung

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was für ein Buch, was für eine Schriftstellerin. Die jetzt in den Gesammelten Werken Virginia Woolfs herausgegebenen Texte mit dem Titel „Augenblicke des Daseins. Autobiographischen Skizzen“ wurden erstmals 1976 aus dem Nachlass von Jeanne Schulkind ediert. In diesen Texten schreibt Virginia Woolf zum ersten Mal, anders als in ihren fiktiven Texten, Tagebüchern und Briefen, über ihre Familie, vor allem über ihre Beziehung zur geliebten Mutter und zum tyrannischen Vater sowie über ihre Geschwister und Halbgeschwister.

Nie war Virginia Woolf persönlicher und offener als in diesen Essays und Rückblicken. Nicht nur die Offenheit überrascht, sondern auch die Leichtigkeit und der spielerische, aber durchaus kritische Umgang mit den Erinnerungen an ihre Kindheit, Jugend und die Familie. Wenn sie sich über den tyrannischen Vater beschwert und ihr Verhältnis anhand eines Tiervergleiches charakterisiert, klingt das etwa so: „Es war, als wäre man mit einem wilden Tier in einem Käfig zusammengesperrt. Wenn ich, mit fünfzehn, ein schnatterndes kleines Äffchen war, das ständig fauchte oder eine Nuss knackte und die Schalen durch die Gegend schleuderte, und Grimassen schnitt, und in eine dunkle Ecke sprang, um sich dann verzückt durch den ganzen Käfig zu schwingen, dann war er der auf und ab streichende, gefährliche, verdrießliche Löwe; ein Löwe, der griesgrämig und zornig und verletzt war, und plötzlich wild, und dann wieder demütig und majestätisch; und dann lag er staubig und von Fliegen gepeinigt in einer Käfigecke.“ Wo hat Woolf je so über ihre Beziehungen zum Vater geschrieben? Nicht in den anderen Essays und auch nicht in dem Roman „Fahrt zum Leuchtturm“, wo sie ja auch, allerdings verschlüsselt, über ihre Familie berichtet. Aber nicht nur diese Offenheit macht diese Werke so interessant, sondern auch die Tatsache, dass sie zwei Texte aus verschiedenen Anlässen mit großem zeitlichem Abstand zu der Familie verfasst hat. Den ersten Text mit dem Titel „Reminiszenzen“ verfasst sie 1907 während der Sommerferien für den noch nicht geborenen Sohn Julian ihrer geliebten Schwester Vanessa. Den letzten Text mit dem Titel „Skizzen der Vergangenheit“ verfasst sie 1939/1940, also wenige Monate vor ihrem Freitod. Er hat zwar den gleichen Stoff zum Thema, aber sie verarbeitet ihn mit einer ganz anderen Reflexionshöhe und mit einer anderen Motivation.

Dazu kommt ein gravierender Unterschied. War sie 1907 noch eine Schriftstellerin, die zwar Romane und andere Texte veröffentlicht hatte, die jedoch noch dem konventionellen Schreiben verhaftet waren, so schreibt sie den letzten Text auf der Höhe ihres Schaffens. Dies betrifft nicht nur ihr stilistisches Können, sondern auch ihre literarisch-philosophische Reflexion. Neben diesen beiden autobiografischen Texten sind drei Beiträge an dem Memoir Club abgedruckt. Dieser Club war eine Versammlung der Bloomsburygruppe. Auch die Beiträge, ´„Hyde Park Gate 22, Old Bloomsbury“ und „Bin ich ein Snob?“ betitelt sind, sind autobiografisch grundiert. Wohnten die Stephens doch jahrelang in Hyde Park Gate und, wie bekannt, gehörte Virginia Woolf zu der berühmten Bloomsbury Gruppe. In dem letzten Club-Beitrag befragt sich doch Virginia Woolf autobiografisch, ob sie und was ein Snob sei. Wie erwähnt, schreibt Woolf in ihrem ersten Text für ihren Neffen Julian, dessen Mutter Vanessa und seine Großmutter Julia Stephen. Dieser Brief ist eine Hommage an Vanessa, so dass viele ihn als einen Liebesbrief von Virginia an Vanessa gelesen haben. Sicher ist, dass Virginia wegen der Heirat und der Schwangerschaft ihrer Schwester einsam und eifersüchtig war. Dies äußert sie aber in den Beschreibungen und Schilderungen ihrer Schwester keineswegs, sondern lobt ihre Gradlinigkeit, ihre Schönheit und auch ihr Pflichtbewusstsein und ihre Aufopferung für ihren Vater und die Geschwister nach dem frühen Tod der Mutter und der Halbschwester Stella über die Maßen.

Die zweite Erinnerungsfigur ist die früh verstorbene Mutter sowie der tyrannische Vater. In diesem frühen Text wird die Mutter als fast mythische Figur geschildert, kaum eine Kritik trübt das Bild. Das ist im letzten Text „Eine Skizze der Erinnerung“ differenzierter. Zwar dominiert auch hier das positive Bild der Mutter, aber dagegen steht der einerseits tyrannische, wehleidige, egoistische Vater, dessen sensible und intelligente und gradlinige Art sie durchaus sieht. Aber es überwiegt beim Vater doch die Kritik am Verhalten, zumal er ja auch eindeutig die Söhne den Töchtern vorgezogen hat und sie studieren ließ, während die beiden Mädchen in ausgewählten Fächern zu Hause unterrichtet wurden. Zur Zeit der Niederschrift las sie zum ersten Mal Freud und wird dabei sicher auf den Begriff der Ambivalenz gestoßen sein, so dass sie das Verhältnis viel schärfer beurteilen konnte. Denn in diesem späten Text wird der Vater ganz anders geschildert. Sie scheut kaum deutliche Bezeichnungen und bezichtigt ihn, das Leben der Mutter, der Halbschwester und das von Vanessa und Virginia über jedes Maß eingeengt und freudlos gemacht zu haben. Vor allem nach dem Tod der Mutter vereinnahmte er die Kinder ohne Rücksicht auf deren Bedürfnisse.

Grandios auch die Schilderungen der vielen, oft herausragenden und bekannten Besucher im Hause Stephen wie die des Schriftstellers Henry James oder von Adeligen und auch hochrangigen Politikern. Die anderen Familienmitglieder, die Brüder Toby und Adrian sowie die Halbbrüder George und Gerald werden ebenfalls ausführlich gewürdigt. Von Toby, dem Lieblingsbruder, der auch leider früh verstarb, wird ein durchweg positives Bild gezeichnet, doch bei dem Halbbruder George hält sich Virginia Woolf nicht zurück; sie charakterisiert ihn als dumm, snobistisch, arrogant, jedoch auch als weltgewandt und im Adel zu Hause. Wie weit die Offenheit im Bloomsbury – Kreis ging, zeigt sich in ihrem Beitrag „Hyde Park Gate“, in dem sie am Schluss schreibt: „Ja die alten Damen von Kensington und Belgravia ahnen nicht, daß George Duckworth nicht nur Vater und Mutter, Bruder und Schwester für diese armen Stephen-Mädchen war; er war auch ihr Liebhaber.“

Ähnlich äußert sie sich an anderer Stelle: Wie manche Interpreten angesichts dieser Äußerungen noch immer die sexuellen Übergriffe vage nennen, ist nicht zu verstehen. Einen weiteren Höhepunkt dieser Texte bieten die allgemeinen Beschreibungen der viktorianischen Gesellschaft und die Schilderungen einzelner Episoden. Virginia musste, als Vanessa es zunehmend ablehnte, George Duckworth zu Einladungen und öffentlichen Aufritten begleiten. Als man einmal in Begleitung zweier älterer adeliger Damen einer Schauspielaufführung zuschaute und am Schluss des Stückes die beiden Hauptdarsteller tatsächlich auf offener Bühne kopulierten, verließ man auf der Stelle das Theater, und die eine Dame meinte besorgt zu Virginia, ob sie sich nicht bei dem Stück gelangweilt habe. Sexualität kam nicht in der Öffentlichkeit nicht vor.

Oder wenn sich George Duckworth beklagte, dass Vanessa auf den Empfängen stumm dabeistünde und deshalb zunehmend Virginia mitnahm, die dann den anwesenden adeligen Damen ihre Ansichten über Gott und die Welt mitteilte. Doch angesichts dieser Ausführungen erröteten die Damen, sie wechselten schnell das Thema, und Georg maßregelte Virginia erbost, ein junges Mädchen habe in Gesellschaft zu schweigen. Diese Widersprüche wurden natürlich von Virginia genüsslich wiedergegeben und sind ein Glanzstück dieser Erinnerungen. Auch die verklemmte Sexualität in der Bloomsbury-Gruppe, die sich erst dann lockerte, als offensichtlich wurde, dass die meisten Männer des Kreises homosexuell waren.

Wie weit sich Virginia literarisch entwickelt hatte, zeigt sich im Vergleich zwischen dem ersten Text von 1907 und dem von 1939/40. Im diesem späten Text reflektierte die Autorin seitenlang über das Problem der Erinnerungen. Das Problem lautet für sie „Ich jetzt, ich damals“. Sie denkt darüber nach, ob die Erinnerungen unabhängig von ihrer jetzigen Existenz existieren, oder, modern ausgedrückt, ob sie nicht irgendwo abgespeichert sein könnten, um für das jetzige Schreiben über die Vergangenheit angezapft werden zu könnten. Natürlich konnte Virginia Woolf  nicht auf die heutigen Erkenntnisse der modernen Gedächtnisforschung zurückgreifen, interessant sind ihre Reflexionen aber allemal. Dass ihre traumatischen Erfahrungen als Subtexte existierten, scheint sie durchaus gewusst zu haben, wenn sie auch in den Texten ihre Zusammenbrüche nach dem Tode der Mutter oder der Halbschwester Stella ausklammert. Einzig in ihrem Text über Hyde Gate, das für sie in der Erinnerung ein Horrorszenario darstellt, schreibt sie über ihre psychische Probleme und Ängste. Denn in Hyde Park Gate war das Zimmer, wo sie zum ersten Mal die Stimmen hörte, die sie ein Leben lang ängstigten und vor deren erneutem Auftreten sie den Freitod vorzog.

Neben diesen autobiografischen Beschreibungen der viktorianischen adeligen Gesellschaft Englands bekommt man auch einen Einblick in ihr frühes Leben, ihre Griechischlektüre und ihre Rolle als benachteiligte Frau in der damaligen Zeit. In einem kurzen Vorwort informiert der Herausgeber Klaus Reichert kompetent und einfühlsam über die Entstehungsbedingungen und den Hintergrund dieser Aufzeichnungen. Die Texte selbst sind von Brigitte Walizek tadellos übersetzt, die ja als ausgewiesene Übersetzerin mehrerer Romane Virginia Woolfs bekannt ist. Hilfreich sind die knappen, aber notwendigen Kommentare zu den erwähnten Personen, so dass sich der Leser vollends informiert der Eleganz und dem Esprit der Texte widmen kann. Für jeden Leser Virginia Woolfs sind diese Aufzeichnungen eine Offenbarung und für neue Leser sind sie eine hervorragende Einführung in eine der herausragenden Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts.

Titelbild

Virginia Woolf: Augenblicke des Daseins. Autobiographische Skizzen.
Herausgegeben von Klaus Reichert.
Übersetzt aus dem Englischen von Brigitte Walitzek.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012.
253 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783100925220

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