Befreiung in die Moderne

An Su Kil schildert eine koreanische Kindheit um 1900

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die früheste Erinnerung des siebzigjährigen Won Gu ist ein Volksfest, das er mit vier oder fünf Jahren inmitten einer fröhlichen Menschenmenge erlebte. Dreihundert Seiten später endet der Roman mit dem Aufbruch des nunmehr Sechzehnjährigen in die Großstadt Pusan, der Befreiung von familiärer Enge, aber auch mit der Aussicht auf kommende Schwierigkeiten.

Dazwischen liegen Erfahrungen mit Konflikten: Gegensätze innerhalb der Verwandtschaft und Bemühungen darum, den Ruf der Familie nach außen zu bewahren; Geschäfts- und Heiratsunternehmungen, die zu schnellen, teils dramatischen Umbrüchen führen. Vor allem aber bedeutet die Zeit um 1900, in der dieser Roman spielt, für Korea eine Zeit einschneidender Veränderungen.

Die ersten politischen Auseinandersetzungen, die der kleine Won Gu halbbewusst miterlebt, sind noch die einer Feudalgesellschaft: ein korrupter Gouverneur, ein wütender Bauernhaufen und dann Raufereien, nach denen die Anführer der Rebellen Probleme bekommen, aber der üble Statthalter abgelöst wird und sein Nachfolger die ärgsten Missbräuche abstellt – kein ungewöhnlicher Ablauf von Bauernrevolten in der Vormoderne. Dann aber treten entwickeltere, ausländische Mächte in Korea auf. Russland ist weit überlegen, und die spätere Kolonialmacht Japan ist den Russen überlegen. Das sind Leute mit Gewehren statt mit Schwertern. Plötzlich ist da technischer Fortschritt. Won Gus Vater schafft sich die erste Nähmaschine der Stadt an, und nachdem die westliche Kleidung kurz verlacht wurde, finden sich Käufer, die merken, wie praktisch diese neuen Anzüge mit den vielen Taschen sind. Am Romanende dann verlässt Won Gu mit einem Dampfschiff seine Heimat.

An weiß klug anzudeuten, wie Änderungen in eine scheinbar statische Gesellschaft eindringen. Die Ebene der Emotionen wird davon noch kaum berührt. Es besteht (bei schwachem Staat) eine Identifikation mit der Familie und mit ihrer Gefühlsordnung, die nach außen zu zeigen durchaus notwendig ist: „Wie kann der Bub nur so kalt sein? So sprachen die Nachbarinnen über Wo Gu, weil er der einzige in der trauernden Familie war, der in der Öffentlichkeit selten weinte“, heißt es, nachdem dessen Vater gestorben ist.

Der Wert des Individuums bemisst sich an äußerer Anerkennung, die gruppenbezogen ist; der Ausbruch Won Gus – der auf seine Weise, verinnerlicht, durchaus um den Vater trauert – ist am Ende also tatsächlich Befreiung in die Moderne. Wenn die älteren Mitglieder der Familie, der er entstammt, allenfalls zaghafte Schritte in diese Richtung unternehmen, so bedeutet dies eine Schwierigkeit für den modernen Leser. Alle diese Figuren wirken ein wenig holzschnittartig. Sie sind interessant zwecks kulturhistorischer Anschauung, doch sind sie noch kaum individualisierte Charaktere.

Zudem wirkt der Ablauf ein wenig zerhackt. Um 1970, als An den Text schrieb, war es normal, dass koreanische Romane in Folgen in Literaturzeitschriften oder gar Tageszeitungen erschienen. Erst Jahre später erschien „Die Brücke über den Song Zon Gang“ als Buch. Die Kleinteiligkeit der Form, ein entwicklungsfeindliches Nacheinander, prägt den ganzen Roman. Das schadet dem Interesse, aber fördert die Lesbarkeit. Der Text liest sich leicht und widerstandslos, man kann ihn sich in kleinen Häppchen einverleiben.

Wer sich dazu entschließt, den erwartet sicherlich keine große Kunst; doch ist ein immerhin detailreicher Blick auf Umbruchszeiten instruktiv. Der Übersetzungsstil bietet keine Probleme. Ein im Ganzen informatives, im Detail verbesserungsfähiges Nachwort beschließt ein Buch, das mit ein paar weniger Druckfehlern noch erfreulicher gewesen wäre.

Titelbild

An Su Kil: Die Brücke über den Song Zon Gang. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Alissa Walser.
Konkursbuchverlag, Tübingen 2012.
319 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783887693862

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