Der Mahlstrom böhmischer „Normalisierung“

Über den längst vergriffenen Roman des legendären tschechischen Schriftstellers Ludvík Vaculík

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was kann es harmloseres geben, als einen Roman über Meerschweinchen, „eine schlichte Tiergeschichte“, wie der Ich-Erzähler dem Leser selbst mitteilt. Der Erzähler wendet sich direkt an die Kinder, gerät ins Plaudern und kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Er stellt sich und seine Familie vor: Vašek, der Vater, Angestellter bei der Staatsbank, Vašek und Pavel, die beiden 9 und 13-jährigen Söhne sowie seine Frau Eva: „Sie ist Lehrerin. Aber das macht nichts“.

Der lapidare Erzählgestus, mit dem Fremdwörter erklärt werden, verrät den Romancier und Feuilletonisten Ludvík Vaculík. Auch wenn Vašek gleich zu Beginn berichtet, dass seine Frau und er vom Lande kommen und erst seit fünfzehn Jahren in Prag leben, aber „mit der Rückkehr auf den angestammten Gottesacker“ rechnen, erinnert dies an einen Hausspruch des 1926 im mährischen Brumov geborenen Ludvík Vaculík: „Entstanden bin ich in Mähren, leben tu ich in Böhmen in Prag, begraben wird man mich wieder in Mähren: Daheim ist daheim!“.

Vielleicht ist es diese Fremdheit in der Hauptstadt, die Vašek den distanzierten Blick in seiner Wahrnehmung verschafft. Die Idee, dem jüngeren Sohn Pavel ein Meerschweinchen zu Weihnachten zu schenken, erweist sich jedenfalls als gelungen. Das Beobachten nimmt neue Formen an. Die Meerschweinchen, es bleibt nicht bei einem, fordern auch Vašek heraus.

Und da er auch während seines beruflichen Alltags in der Staatsbank immer mehr sonderbare Beobachtungen macht, widmet er sich zuhause in nächtlichen Stunden dem Betrachten der Meerschweinchen: „Richtiges Beobachten ist, wie ich eben grob gesagt habe, ein Geisteszustand. Jetzt sage ich es genauer, es ist eine Form der Existenz: einer beständigen, sozusagen passiven, schweigsamen und leisen“. Hinter dieser Haltung verbergen sich Strategien zur Schaffung von Distanz und damit macht man sich keine Freunde.

Ab jenem Augenblick, als Vašek seine Leser mit einer wunderlichen Figur in der Staatsbank, den Ingenieur Chlebeček bekannt macht, beginnt sich eine ungeahnte Dynamik mit irritierender Spannung in das Geschehen einzuschalten. Chlebeček kündigt eine Krise unbekannten Ausmaßes an, wenn der allgemein praktizierte Diebstahl von Geldscheinen seitens der Mitarbeiter der Staatsbank ungehindert anhält: „Ich warne Sie! Das ist der Strudel! Das ist der – Maelström!“.

Vašek weiß von der Herkunft des Begriffs Maelström aus einer Schrift von Edgar Allen Poe. Für einen passionierten Beobachter ist ein derart abgründiger Strudel lockendes Objekt und verschlingendes Schicksal zugleich. In subtilen Schritten versucht sich Vašek einem Geheimnis zu nähern, das sich sogleich immer zu entziehen weiß.

Das Labyrinth der Staatsbank wie auch die idyllische Behausung des Ingenieurs Chlebeček am Rande der Stadt Prag scheinen von einer undefinierbaren Bedrohung überschattet. Detektivische Unternehmungen bringen keine Antworten, sondern werfen neue Fragen auf. Das Ende ist überraschend, furchtbar überraschend, und wird nur jene verwundern, die vergessen haben, dass Franz Kafka aus Böhmen stammte.

Vaculík ist in die böhmische Geschichte mit seinem Manifest der „2000 Worte“ eingegangen, in welchem er im Sommer 1968 die Prager Reformpolitiker aufgerufen hatte, den Kurs der Öffnung und des politischen Umbaus fortzusetzen. Trotz der ungeheuren Popularität dieses Aufrufs, auch DDR-Touristen bekundeten seinerzeit spontan mit ihren Unterschriften ihre Solidarität mit Alexander Dubčeks „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, folgte die Ernüchterung durch die bewaffnete Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im August 1968.

In den anschließenden Jahren der sogenannten „Normalisierung“ ereilte auch Ludvík Vaculík ein typische tschechoslowakisches Schicksal. Er wurde aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen, mit Publikationsverbot belegt und in einer gleichgeschalteten Öffentlichkeit denunziert. Vaculík wehrte sich auf seine Weise. „Die Meerschweinchen“ veröffentlichte er als ersten Titel seines von ihm ins Leben gerufenen Samizdat-Verlages „edice petlice“ (= Edition hinter Schloss und Riegel), in welchem er im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre an die 400 Titel herausgab. Als „Die Meerschweinchen“ in der Tschechoslowakei offziell erscheinen konnten, war der real existierende Maelström abgeschafft. Vorerst zumindest.

Titelbild

Ludvík Vaculík: Die Meerschweinchen. Roman.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Alexandra und Gerhard Baumrucker.
Diaphanes Verlag, Zürich 2011.
192 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783037341780

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