Böse genug, um derart hässlich zu sein

Zur Kritik an Rainald Goetz’ Roman „Johann Holtrop“

Von Alexander WeilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Weil

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mitte September flog „Johann Holtrop“, das neue Buch von Rainald Goetz, von der Longlist des Deutschen Buchpreises, und die Reaktion des sichtlich zerknirschten Dichters ist auf der Website des Verlags zu sehen: eine Video-Lesung mit dem Untertitel „gefeuert“ zu deren Beginn Goetz sein Schicksal mit dem seines Protagonisten verknüpft, der Reihe nach Zeitungsrezensionen auf einen Schreibtisch wirft und stockend erklärt, er, Holtrop, wurde: „Gefeuert, gefeuert, gefeuert. Wegen Kälte, Arroganz, Bosheit, Negativität und wegen einer generellen und fundamentalen Unkompetenz. Er kann das Unternehmen, das er führt, die Assperg-AG, dieses Riesenreich, den Roman, gar nicht führen. Hochstapler. Er versteht nicht, was ihm vorgeworfen wird. Er macht einfach weiter. Er liest.“; worauf Goetz sich an den Schreibtisch setzt und das 5. Kapitel aus seinem Roman vorliest, an dessen Ende Holtrop zu folgenschwerer Tat schreitet.

Zu Beginn des Romans, 1998, ist Johann Holtrop Vorstandsvorsitzender der Assperg AG, 48 Jahre alt, Chef über 80.000 Mitarbeiter (Jahresumsatz: 15 Milliarden), am Ende, 2010, mit 60, ist er tot. Er hat eine Frau, zwei Kinder, ein Privatleben, über das man wenig erfährt. Verwischt schattenhaft, wie auf einem lange belichteten Bild, hetzt er durch sein Leben, räumt skrupellos aus dem Weg, was ihm hinderlich ist, bis ihn Mitte der Nullerjahre die Wirtschaftskrise trifft, die in seinem Fall eine persönliche und seelische Krise ist.

In ihrer Ablehnung des Buches („Dokument einer literarischen Anmaßung“) und deren Relativierung („Dabei gibt es natürlich großartige Szenen“) kommen etliche Kritiker zum Schluss, Goetz sei diesmal an seinen eigenen Ansprüchen gescheitert; etwa Andreas Platthaus, der in der „F.A.Z.“ schreibt: „Goetz als Zeitdiagnostiker – warum nicht? Goetz als kalter Satiriker – allemal! Goetz als Romancier – muss nicht mehr sein.“

Wenn ein Romancier jemand ist, der mit einer gewissen Regelmäßigkeit mit Romanen in Erscheinung tritt, dann konnte man das von Goetz bisher nicht behaupten. Aber vielleicht verwandelt er sich gerade in einen Romancier. Die „F.A.S.“ hat für ihre Besprechung ein Porträt ausgewählt, auf dem der Autor, von Isolde Ohlbaum fotografiert, mit locker drapiertem Dichterschal um Schulter und Hals, halb im Profil, entschlossen und scharf in die Kamera blickt, hinter dem markanten Gesicht unscharf und grün ein Wald. Man kann den Eindruck gewinnen, ja, so inszeniert sich der Dichter als Romancier. Die Pose vor dem großen Werk. Aufbruch in eine neue Dimension. Erzählungen von sagen wir über 200 Seiten. So gesehen ist Goetz jetzt ein Romancier.

„Ich ging, wie mir befohlen, gemessen voran, heiteren lächelnden Schritts, führte sie auf geschwungenen Treppen hoch, durch verschlossene Türen hindurch, hoch und höher.“, heißt es zu Beginn von „Irre“ (1983), seinem Romandebüt.

„Johann Holtrop“ ist ein Gedanke aus dem 23. Psalm vorangestellt: „und müsste ich gehen in dunkler Schlucht“; und auf der Rückseite des Buches heißt es: „wütend schritt ich voran.“

Von Leichtfüßigkeit keine Spur. Es sind die einzigen Sätze in „Johann Holtrop“ aus denen noch ein Ich-Erzähler spricht, und mit seinem Verschwinden treten an Stelle seiner Hass-und Klagetiraden, Hass-und Klagedeklamation.

„Das riesige Heer der von Bodenhausen mit besonderer Begeisterung beschimpften Telekomaktienkäufer, dieser Typus Mensch, man kann auch sagen: der konstitutionalisierte Herdenmensch, war Kernmitglied von Holtrops treuester Fanbasis innerhalb der Firma Assperg gewesen. Nun aber war der Zug der Zeit weiter und woandershin gezogen, die unschöne Gier der Telekomaktienkäufer war in ein noch unschöneres Beleidigtsein übergegangen, für eigene Blödheit vom Leben auch noch bestraft zu werden, das fanden die Leute jetzt plötzlich allesamt empörend, eine Ungerechtigkeit der Welt, gegen die sie am liebsten geklagt hätten und bis nach Karlsruhe gegangen wären, um sich Schadensersatz dafür zu erstreiten, dass ihre Weltsicht der Geldgier, obwohl kollektiv so angstvoll abgesichert, falsch war im Effekt, Dummheit aller, allgemein gelebte Idiotie. Und plötzlich waren es jetzt auch wieder die vermuteten und sogenannten Machenschaften derer da oben, die sich an ihnen, den sprichwörtlich kleinen Leuten, bereicherten, sich die berühmten, von Wonka sogenannten Taschen vollmachten usw, ein Exzess traurigster Unsinnseinstellungen im Denken der Gesellschaft war die Folge der ursprünglich so hysterisch auf die Jahrtausendwende hinstürzenden Kollektiveuphorie. So schön, wenn auch falsch, diese Euphorie gewesen war, so scheußlich war der aggressiv muffig vorgeführte Kater der Beleidigten und angeblich Entrechteten danach, der jetzt die Stimmung regierte.“

In einigen Besprechungen heißt es, Goetz habe sich in unzulässiger Weise, quasi mit Holtrop’scher Selbstherrlichkeit, in der Figur des Erzählers inszeniert. Jedenfalls hat der Erzähler sich mit seinem Holtrop, auf eine die eigene Rolle als auktorialen Erzähler geradezu verhöhnenden Art und Weise gemein gemacht. Der Mythos vom auktorialen Erzähler, der mit einer für eine ‚wahre’ Geschichte unvereinbaren Allwissenheit alles weiß, wird auf die Spitze getrieben und kippt von dort konsequenterweise ins Bodenlose. Holtrop und der Erzähler wissen alles, was wissenswert ist, nur fehlt ihnen die Vorstellungskraft, sich mit den Augen der anderen sehen zu können. Das haben sie miteinander gemeinsam. Kein Wunder, dass man auch dem Autor ein Defizit an Selbstwahrnehmung zum Vorwurf macht.

Volker Weidermann kritisiert in der „F.A.S.“ ein fehlendes „Sich-selbst-Hineinwerfen in den Text“, ein fehlendes „Sich-selbst-in-Frage-Stellen“ und meint Autor und Erzähler in Personalunion. Ersteres trifft nicht auf den Autor zu. Goetz wirft sich in den Text. Infrage stellt er sich dabei nicht. Wozu auch? Alle in „Johann Holtrop“ sind in ihrer Selbstwahrnehmung blind. Es gibt nicht mehr die Goetz’sche Ichfigur. Und dann ist in „Johann Holtrop“ die Sprache der Verachtung erkannt und hemmungslos und unpersönlich und deklamatorisch zur Anwendung gebracht.

„In diesem Buch werden auf jeder Seite neue Vernichtungsurteile gesprochen.“, schreibt Weidermann. „Die Welt dieses Buches kennt ausschließlich egomanische Arschlöcher, Menschen, die jederzeit jedermann ans Messer zu liefern bereit sind, wenn auch nur der kleinste Vorteil für sie herausspringen könnte. Neue Leute werden zum Beispiel so vorgestellt: ‚Duhm, 40, noch so eine Ratte.’ Das erstaunlichste an dieser eintönigen Abscheu-Inszenierung ist noch der Reichtum des Autors im Erfinden von Deppen-Adjektiven. Denn einen reinen Helden kennt dieses Buch natürlich doch, und das ist der Erzähler, der, mit seinen Vernichtungsnoten herumwerfend, ganz ernsthaft durch diese Romanwelt spaziert: Er ist der Einzige, der weiß, wie’s läuft, der Einzige, der weiß, wie erbärmlich alle sind. Alle, alle außer: Ich. Giftzwergprosa, jämmerlich.“

Tatsächlich kann man sich fragen, ob die Holtrop’sche Welt böse genug ist, um derart hässlich zu sein. „Johann Holtrop“ verlangt vom Leser eine ästhetische Entscheidung: Keiner findet Gnade in einer Welt, die erfolgreich genug ist, einen wie Holtrop hervorzubringen, fertig zu machen und zu entsorgen. Jedem fehlt die Vorstellungskraft, sich in einer solchen Welt mit den Augen der anderen zu sehen. Überall Feinde und Gefahr. Kein rettendes Ich, das unter der Last der Verhältnisse zusammenbricht. Keine Identifikationsfigur weit und breit.

„Rainald Goetz will das moralisch Verkommene dieser neuen Generation in den Chefetagen anprangern und die Ursachen für die Finanz(markt-) krisen der letzten fünfzehn Jahre festhalten“, schreibt Rainer Moritz in der „N.Z.Z.“

Schlecht gesehen. Schlecht gesagt. Angeprangert werden hier nicht die Leute in den Chefetagen („Die geistige Obdachlosigkeit ganz oben“), zu deren Komplizen sich der Erzähler macht. Die Vorstellung, das Ganze müsse verändert werden, besitzt in diesem Buch keine Strahlkraft mehr. Verändert? Und dann? Wozu? In „Johann Holtrop“ hat der Wahnsinn das Ganze erfasst, und seine Wirkung, nicht seine Ursache, ist das Band, das alle Figuren umschlingt.

„Er übernahm per Nachahmung, was er gut fand, identifizierte die Defizite, die er vermeiden wollte, und glaubte er würde jetzt, weil er alles erkannt hatte, die Fehler vermeiden und alles richtig machen können. Holtrop glaubte einschränkungslos an die Freiheit seines selbstbestimmten Handelns. Und die strukturelle Kaputtheit des Systems der Verachtung erzeugte bei ihm vor allem den Überlegenheitsgedanken: gut, dass ich weiß, dass alle so kaputt sind, denn dann kann ich davon profitieren.“

Kein Autor, kein Erzähler, kein Holtrop stellt sich hier in Frage, aber so sprechen Ungeheuer, wenn sie auf der Bühne stehen.

Titelbild

Rainald Goetz: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
343 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518422816

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch