„Diese schreckliche russische Kraft“

Hartherzigkeit und Potenz: Wadim Maslennikow taumelt in „Roman mit Kokain“ durch den bunten Moloch Moskau.

Von Andreas ThammRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Thamm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man muss ein wenig warten, fast die Hälfte des Buches ist gelesen, bis das Titelversprechen auf Kokain eingelöst wird. Wadim Maslennikow ist verlassen worden, von Sonja, der einzigen Frau, der er zärtliche Gefühle entgegenbringen konnte. Freilich auf Kosten der sexuellen Erfüllung, denn Gefühl und Sex sind zwei unvereinbare Sphären im Kosmos des jungen Moskauer Studenten. „Ich lasse mich in den Sessel fallen. Es geht mir gut. Ein Lichtstrahl späht aufmerksam meine Empfindungen aus.“ So beschreibt Maslennikow seine „Entjungerfung“ in Sachen Koks. Die Erzählung kommt im Präsens an, es herrscht eine neue Klarheit, ein trügerischer Vorbote von Manie und Hysterie.

Der „Roman mit Kokain“ ist mehr als ein Exemplar russischer Exilliteratur. Er trägt einen Mythos vor sich her. Es ist der „Roman des Romans“, wie Karl-Markus Gauß in seinem Nachwort schreibt, der das Phänomen dieser Literatur entscheidend mit ausmacht. Ungeachtet der unbestreitbaren literarischen Qualität, hat in der Rezeption des Buches eine Überhöhung stattgefunden, die sich aus der Faszination um das Rätsel der Autorschaft speist.

1936 erscheint der „Roman mit Kokain“ erstmals in einem französischen Exilverlag. Mit beachtlichem Erfolg. Während des Zweiten Weltkriegs gerät er in Vergessenheit. Erst 1983 wird er wiederentdeckt, von einer Französin russischer Abstammung, die eine Neuübersetzung ins Französische anfertigt. Das Buch wird erneut in höchsten Tönen gelobt. Und: das Rätselraten beginnt. Wer verbirgt sich hinter dem Pseudonym M. Agejew? Ein völlig Unbekannter? Oder doch, denn dorthin weisen einige Indizien, Vladimir Nabokov? Dessen Witwe widerspricht vehement, niemals habe ihr Mann dieses Pseudonym verwendet, noch Kokain genommen. Erst in den späten 1990er-Jahren belegten zwei russische Archivare die Mark-Levi-Theorie. Es gilt als höchst wahrscheinlich, dass der lange Zeit in Istanbul lebende, russische Jude Levi das Buch in Berlin geschrieben hat. 55 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung in Frankreich erschien es endlich auch in Russland.

Die vorliegende Ausgabe des Manesse-Verlags ist die erste Übersetzung aus dem Russischen ins Deutsche, zudem die erste Version mit dem nachträglichen und nach dem Wunsch des Autors erweiterten Ende. Sie birgt in jeder Zeile die Geschichte, die das Buch selbst, unabhängig von seinem Inhalt, geschrieben hat. Ein Para-Plot vom Verschwinden, Vergessen und Auftauchen, von einer Literatur, die sich fast ein Jahrhundert lang gegen die Mühlen der Zeit gestemmt hat, und siegreich hervorgegangen ist.

Die Lektüre soll davon nicht überschattet sein, denn der „Roman mit Kokain“ ist auch ohne den umgebenden Mythos ein düsterer Brocken, ein schwarzer Monolith, der aus einer Zeit größter Umwälzungen in Russland ins 21. Jahrhundert ragt. Wadim Maslennikow, der getriebene Held des Romans, stolpert durch den bunten Moloch Moskau, immer auf der Suche nach der nächsten Frau, die er ins Hotel schleifen kann. Er ist ein durchtriebener Zyniker, kalt, berechnend, Egoist aus glühender Überzeugung, einer, der seine Mutter bestiehlt und sich Zeilen später in wimmerndem Selbstmitleid auflöst. Die andämmernde Revolution, Religion für den Schulkameraden Burkewitz, ist ihm „bis zur Peinlichkeit zuwider“. Wir lernen mit Maslennikow den scheiternden Nihilisten kennen, der später zu einem Junkie mutiert, wie aus den Büchern eines William S. Burroughs entwachsen.

Am nächsten bringt Levi uns diesen im ersten Teil, „Das Gymnasium“, dem Kapitel, das noch nicht von Düsternis überlagert wird, sondern auch amüsante Anekdoten kennt. Maslennikow etabliert hier seine Sprache, die von diffuser Zärtlichkeit getragen wird und teilweise stark poetisiert ist. Er will sich als „erotisches Wunderkind“ in das Bewusstsein seiner Umgebung einprägen und erweist sich dabei als derart überreflektiert, dass der Leser jegliche Charakterzüge bald aufgebahrt vor sich liegen hat: „Das Glücksgefühl“, konstatiert er im Zuge einer Eroberung, „endete nicht, weil die äußeren Umstände, die dieses Glück begünstigten, verschwanden, sondern allein kraft der Erkenntnis, dass diese äußeren Umstände überaus bald und unbedingt verschwinden würden.“ Diese essayistischen Splitter prägen die Lektüre bis zum Schluss, sie sind, je nach Dossierung, mal erfrischend in ihrer Radikalität, mal so intrinsisch, dass die Handlung abhanden kommt, dass Längen entstehen.

Umso präziser geraten dagegen in ihren besonderen Beobachtungen die Schilderungen der Mitschüler und des ewig andauernden Wettstreits um Anerkennung und gute Noten. Die Schule ist kein harmloser Ort jugendlicher Freundschaftsbande, sondern eine Arena. Zwischen den Klassenbesten Burkewitz, Stein und Eisenberg kommt es letztlich, kurz vor den Abschlussprüfungen, zum Showdown in Geschichte: „Es scheint mir, dass wir ganz genau so bei einem Stierkampf mitgefiebert hätten, wenn wir unsere Gefühle nicht mit Schreien hätten ausdrücken können.“ Am Ende der Stunde, nach einem denkwürdigen Auftritt des späteren Parteifunktionärs Burkewitz, sind die anderen, die Desillusionierten, seltsam beeindruckt: „[…] und wir fühlten, überdeutlich und scharf, wie in ihm diese schreckliche russische Kraft gärte und dampfte, die weder Schranken noch Grenzen kennt, eine einsame Kraft, düster und stählern“. Aus Vorausahnungen, Atmosphärischem und dem kontrastierenden Desinteresse des Protagonisten, strickt Levi ein Gefühl für zeitgeschichtliche Brisanz, dass dem Ganzen ständig innewohnt und selten explizit wird.

Der Wegfall des sozialen Bezugssystems Schule, in dem Maslennikow seine Hartherzigkeit und Potenz zu strahlender Entfaltung bringen konnte, markiert den Beginn der Leidensgeschichte. Zwar studiert er Jura, doch ist das in „Roman mit Kokain“ in keiner Szene belegt, es bleibt Behauptung. Stattdessen taumelt er wie gewohnt durch die Boulevards, ein Getriebener, in dem ein Wahnsinn keimt. Die Großstadt, Moskau, ist seine Bühne voll lyrischer Schönheit und maximaler Verdorbenheit: „[…] da stand ein Pissoir in Form einer leicht über der Erde schwebenden, nicht bis zum Ende aufgewickelten Rolle, dessen stechender Geruch einem von der Ferne die Augen reizte; da zeigten sich am Abend zerlumpte, stark geschminkte Frauen, die mit heiseren, leblosen Grammophonstimmen für zwei Griwa Liebe feilboten“.

Diese Bewegungen auf der Suche nach Frauen und Wodka, im Zuge derer er auch Sonja kennenlernt, können nicht verhehlen, dass Wadim ein Gefangener seiner selbst bleibt. Die zerstörerischen Spiralen der Selbstbefragung – nicht umsonst spielt der Roman zur Zeit der Erscheinung von Sigmund Freuds „Psychoanalyse“ – erreichen ihren fatalen Höhepunkt im Zusammenhang mit dieser ersten echten Liebe. Treu kann er, wohlbegründet, nicht sein: „Wenn das“, schließt Wadim, „was ich getan hatte, kein Betrügen war, dann hieß es, dass mein geistiges Ich für mein sinnliches nicht verantwortlich war, dass meine Sinnlichkeit, so schmutzig sie auch war, meine Geistigkeit nicht beflecken konnte.“ Die so heiß ersehnte Beziehung muss scheitern.

Als der zweite Protagonist des Buches, das Kokain, auftaucht, ist Wadim einsam und verarmt, dabei umgeben von Wohlhabenden und Verliebten. Der ohnehin schizoid angelegte Charakter, der unablässig an den Gründen der eigenen Emotion wühlende Neurotiker, ist ein denkbar leichtes Opfer des Giftes. Durch den Wechsel ins Präsens erfährt der Leser in radikaler Unmittelbarkeit Wadims Überempfindlichkeit, die neuen Dynamiken seiner Empfindung: „Ich will die Nacht festhalten, mir geht es so gut, es ist so klar in mir, ich bin so maßlos in dieses Leben verliebt, ich will dass alles langsam vergeht, will jede Sekunde dieser Liebe genießen und festhalten, aber nichts hat Bestand, die ganze Nacht vergeht zugleich unaufhörlich und schnell.“ So denkt einer, der, als die Nüchternheit zurückkehrt, sein Leben nicht fortsetzen möchte.

Der Dynamik des Romans gehorchend ist es konsequent, dass Mark Levi den letzten Teil des Buches „Gedanken“ nennt. Die Handlung kommt fast vollständig zum erliegen. Maslennikow transzendiert zum nurmehr geistigen Wesen, das sich den rauschbedingten Erkenntnissen über die Droge, die Menschheit, das Leben auf manische Art und Weise hingibt. Was über einen Gegenwartsroman eher abfällig ins Feld geführt würde, entspricht in diesem Fall der zeitgeschichtlichen Notwendigkeit: Er ist der psychologischste. Diese schlussendliche Übersteigerung ist dem Lesegenuss nicht zuträglich, dafür im Mindesten konsequent.

Es bleibt, dessen ungeachtet, der Eindruck einer subjektivierten Apokalypse von epischem Ausmaß. Zwar erfährt dieser Roman aufgrund seiner Rezeptionsgeschichte eine zusätzliche, wohl auch qualitative, Überhöhung – das Wesen des Mythos, des Hype –, dennoch bleibt „Roman mit Kokain“ ein beachtliches Stück Literatur des 20. Jahrhunderts, zu weiten Teilen höchst lesbar, am Ende mit bitterer Pointe. Auch ein Nabokov hätte sich dieses Buches nicht schämen müssen.

Titelbild

Mark Levi Agejew: Roman mit Kokain.
Übersetzt aus dem Russischen von Valerie Engler und Norma Cassau.
Manesse Verlag, Zürich 2012.
250 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783717522867

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