Mittsommernachtshorror

In Erling Jepsens Roman „Kopfloser Sommer“ hat ein Mädchen nur wenig Zeit, um erwachsen zu werden

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Emilie ist 14 Jahre alt, als die Ehe ihrer Eltern zerbricht. Während der Vater sich nach der Trennung eine Stadtwohnung in Kopenhagen einrichtet, in der er mit seiner neuen – und natürlich um einiges jüngeren – Partnerin leben will, mietet die Mutter ein Haus auf dem Land. Dort, eine gute Autostunde von der Metropole entfernt, sucht sie mit ihren beiden Kindern – Emilie hat noch einen 8-jährigen Bruder, Jacob, ein äußerst sensibles Kind, das unter den gewandelten familiären Verhältnissen offenbar am meisten leidet – den Anfang eines neuen Glücks. Doch der erste Sommer ohne den Vater wird für die beiden Kinder zu einem emotionalen Desaster, das der dänische Autor Erling Jepsen (Jahrgang 1956) mit deftigen Anleihen beim Horrorgenre in Szene setzt.

Jepsen, in Deutschland unter anderem bekannt geworden mit den Romanen „Dreck am Stecken“ (Heyne 2006), „Die Kunst, im Chor zu weinen“ (Suhrkamp 2008) und „Fürchterlich glücklich“ (Suhrkamp 2010), hat ein Faible für surreal Überzeichnetes. Heimattümelei sucht man bei dem Südjütländer vergeblich. Sein Blick auf Land und Leute ist hart und verstörend. Den Splatterszenen und bluttriefenden Arrangements in seinen Werken liegt freilich ein humanistischer Gestus zugrunde, der ins Maßlose übertreibt, um das Fehlen jedweden Maßes in der heutigen Welt zu verdeutlichen.

Auch in „Kopfloser Sommer“ – im dänischen Original 2011 erschienen – dauert es nicht lange, bis das Familienidyll auf dem Lande zerbricht. Statt in dem verwilderten Anwesen, in dessen Mitte das kleine Haus steht, die Kulissen eines Gartens Eden wahrzunehmen, wird schnell klar, dass man sich auf äußerst unsicherem Terrain befindet. Und als noch ein geheimnisumwitterter Fremder auftaucht, dem sowohl die ältere als auch die jüngere der beiden Frauen verfällt, hat Jepsen alle Ingredienzien für seinen modernen Schauerroman beisammen.

Fortan wird dem Leser eine Menge zugemutet. Anders, der unheimliche Gast, entpuppt sich als ehemaliger Bewohner des Hauses – und er tut alles, um auf dem Anwesen, das er bis in die letzten Winkel zu kennen scheint, zu bleiben. Geschickt spielt er Mutter und Tochter gegeneinander aus und versetzt den kleinen Jacob von einem Schrecken in den anderen. Auch als Emilies und Jacobs Vater bei einem Besuch den kräftigen jungen Mann, dem er auf Anhieb misstraut, des Hauses verweist, ist der in der nächsten Nacht wieder da und terrorisiert die Familie nach Kräften.

„Kopfloser Sommer“ steckt voller Symbole, mythologischer Anspielungen und schwarzromantischer Verweise. Auf dem Gelände des alten Hauses findet sich ein nur notdürftig abgedeckter Brunnen, durch den man in eine wahrhaft teuflische Unterwelt hinabsteigen kann. Hier verbirgt Anders die finsteren Seiten seiner Herkunft. Gleichzeitig befindet sich Emilie, wenn sie am Ende des Romans das labyrinthische Kellersystem erkundet, auch in den Tiefen ihrer eigenen Psyche am Übergang von der Kinder- in die Erwachsenenwelt. Wenn es deshalb auf den letzten Seiten des Romans so aussieht, als könnten Vater und Mutter nach kurzer Trennungszeit wieder zusammenfinden, so hat sich für die Kinder doch so viel verändert, dass auch das neue Glück der Eltern sie nicht wieder in die Zeit der Unschuld zurückversetzen kann.

Erwachsenwerden als schmerzvoller Prozess, erste Liebesfreuden und -leiden, erwachende Sexualität, Eifersucht und Hass, Verlassenwerden und Sich-verlassen-Fühlen – Erling Jepsen hat für die Hauptthemen seines Romans eine kräftige Bildsprache gefunden. Vielleicht geht er hier und da im Ausmalen des Horrors ein wenig zu weit. Am Ende freilich ist aus dem noch etwas unbedarften Teenager Emilie, wie ihn die ersten Seiten des Romans präsentierten, eine junge Frau geworden, die die Welt um sich herum besser zu verstehen scheint als jene, deren Aufgabe es gewesen wäre, sie in die Geheimnisse des Lebens der Erwachsenen einzuführen. Verständlich deshalb auch die Skepsis, mit der sie die Rückkehr ins Paradies, die ihre Eltern inszenieren, kommentiert: „Sie denken, wir sind eine glückliche Familie. Ich denke mir meinen Teil. Wie blöd kann man eigentlich sein, und so etwas nennt sich erwachsen. Was wissen sie denn, wenn es darauf ankommt? Ich dagegen, ich weiß beinahe zu viel.“

Titelbild

Erling Jepsen: Kopfloser Sommer. Roman.
Übersetzt aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
287 Seiten, 13,99 EUR.
ISBN-13: 9783518464144

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