Die Suche nach dem Dämon

Jutta Riester untersucht „die Menschen Dostojewskis“

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Dämonisch“ nennt Stefan Zweig in seinem Buch „Drei Meister. Balzac, Dickens, Dostojewski“ den Realismus von Fjodor Dostojewski. Leicht belegen lässt sich diese Behauptung etwa an der Beschreibung von Rodion Raskolnikoffs Zustand nach seiner Tat in „Schuld und Sühne“: „Er war jedoch während seiner Krankheit nicht die ganze Zeit bewußtlos; es war ein fieberhafter Zustand mit Traumgesichten und halbem Bewußtsein. An vieles konnte er sich später erinnern. […] Jenes aber, jenes hatte er vollkommen vergessen; dafür aber dachte er immerfort, daß er etwas vergessen habe, was er nicht hätte vergessen dürfen; er quälte sich, marterte sich, um darauf zu kommen, stöhnte, es überfiel ihn eine rasende Wut oder eine schreckliche, unerträgliche Angst. Dann versuchte er aufzustehen, wollte fliehen, aber stets hielt ihn jemand mit Gewalt zurück, und er verfiel wieder in Schwäche und Bewußtlosigkeit […]“.

Die Erforschung der „dämonischen Abgründe“ (Zweig) der Seele der Figuren in Dostojewskis Werken ist sowohl für Literaturwissenschaftler als auch für Psychoanalytiker bekanntlich schon immer eine große Herausforderung und somit ein Dreh- und Angelpunkt der Geschichte der psychoanalytischen Literaturwissenschaft gewesen, von welcher der amerikanische Psychotherapeut und Psychoanalytiker Louis Breger zu Recht behauptet, sie sei „lang“, aber „durchwachsen“ („troubled“). Louis Breger selbst ist nicht nur der Autor von drei brillanten, die psychoanalytische Orthodoxie herausfordernden Büchern über Freud und die Psychoanalyse beziehungsweise die Psychotherapie – „Freud: Darkness in the Midst of Vision“ (New York 2000), „A Dream of Undying Fame: How Freud Betrayed His Mentor and Invented Psychoanalysis“ (New York 2009) und „Psychotherapy: Lives Intersecting“ (New Brunswick, NJ 2012) –, sondern auch einer tiefgründigen, subtilen Untersuchung über Dostojewski: „Dostoevsky. The Author as Psychoanalyst“ (New York 1989). Ein Anstoß für Bregers Dostojewski-Buch ist sein Unbehagen über die Entgleisungen der psychoanalytischen Literaturwissenschaft gewesen, die „im Extremfall“ „Fiktion auf Symptom und psychosexuelle Kategorie, Autor auf Patient“ reduziert. Neu ist dieser Vorwurf keineswegs, wertvoll ist aber vor allem die nachfolgende Forderung Bregers, aus der er seinen eigenen Ansatz entwickelt: „Was wir brauchen – und was wir langsam in den besten gegenwärtigen Arbeiten von Menschen mit soliden Kenntnissen und Erfahrungen in beiden Feldern [Literatur und Psychoanalyse] zu sehen beginnen – ist ein Verfahren, das einerseits der Komplexität literarischer Texte, des kreativen Prozesses und des realen Lebens der Autoren Rechnung trägt und andererseits das akkumulierte Wissen langer Jahre psychoanalytischer Beobachtung berücksichtigt.“ (Übersetzung durch die Autorin, GH).

Vor der Folie dieses überzeugenden Programms lässt sich auch das neulich erschienene Buch „Die Menschen Dostojewskis. Tiefenpsychologische und anthropologische Aspekte“ von Jutta Riester untersuchen und bewerten. Entstanden ist es im Jahre 2011 als Dissertation am Institut für Psychologie der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Die Autorin arbeitet als Psychotherapeutin in Berlin und ist dort Mitarbeiterin am Institut für Tiefenpsychologie, das unter der Leitung des verdienten Psychotherapeuten und Forschers Josef Rattner steht. Beeindruckend und faszinierend seien für Jutta Riester bei Dostojewski in erster Linie die „seelischen Polaritäten von unten und oben […], von Hilflosigkeit und Aufschwung, von Inferiorität und Geltungsstreben […]“.

Wie Friedrich Nietzsche, der in Dostojewskis Büchern einen „wahren Geniestreich der Psychologie“ entdeckt, sieht Jutta Riester in ihnen – auch wenn sie weniger pathetisch und viel schlichter, sogar pragmatisch formuliert – „eine Fundgrube für jeden Psychologen“. So analysiert sie in ihrem Buch hauptsächlich die Romane „Der Spieler“, „Der Idiot“ und „Schuld und Sühne“ aus „tiefenpsychologischer“ Sicht. Dabei untersucht sie die Figuren auf eine Reihe von „tiefenpsychologischen Kategorien“ hin – Ich-Schwäche, Schuldgefühle, Masochismus, Größenwahn usw., prüft „Strukturmerkmale“ sowie „Krankheitsbild[er]“, betreibt „Persönlichkeitsdiagnostik“ der Figuren und wägt ab, inwiefern sie in später herausgearbeitete tiefenpsychologische „Charakterschema[ta]“ hineinpassen. Die Feststellungen der Autorin sind häufig trocken-deklarativ und erfolgen tatsächlich in Form von Diagnosen: „Neben Sucht und Hysterie scheint, von der Selbstdestruktion auf die Spur gebracht, psychischerseits bei Alexej [aus „Der Spieler“] auch noch ein Masochismusproblem vorzuliegen.“

Hiermit verfällt die Autorin der weiter oben zitierten und von Breger (wie von vielen anderen Kritikern) monierten Pathologisierung der Figuren und ihrer Reduktion auf Symptome und Krankheitsbilder. Irritierend wirken zudem die seitenlangen Inhaltsangaben, die jeder Analyse vorangestellt werden, sowie die zwei einführenden Kapitel „Schlaglichter auf die Geschichte und die Literatur Russlands“ (Kap. 2) und „Biografisches zu Dostojewski“ (Kap. 3), die sicherlich interessante und teilweise wichtige Informationen enthalten, aber einen unnötig langen und weit ausholenden Vorspann zu der eigentlichen Argumentation bilden.

Innovativer und aufschlussreicher dagegen ist Jutta Riesters Versuch, die Figuren aus der Perspektive verschiedener psychoanalytischer Schulen zu interpretieren. Dazu ‚schlüpft‘ die Autorin abwechselnd und von Kapitel zu Kapitel in die Rolle der bekanntesten Gründer tiefenpsychologischer Schulen und versucht, sich ihre Reaktion auf die Figuren Dostojewskis auszumalen, so etwa in ihrer Besprechung des Romans „Der Idiot“: „Wie hätte Freud Nastasjas Störung, wäre sie in seine Behandlung gekommen, beurteilt?“ Freuds Ansicht wird dann mit Alfred Adlers Theoriebildung und Therapieansätzen kontrastiert: „Seelisch ausgeglichen war unsere Protagonistin Nastasja Filipowna Baraschkowa keinesfalls. Alfred Adler hätte bei ihr einen handfesten männlichen Protest festgestellt, hätte sich Nastasja hilfesuchend an ihn gewandt. […] Adler hätte ihr empfohlen, sich sinnvoll zu engagieren, um von Gemeinschaftsgefühl durchdrungen zu werden und die Verletzungen ihrer Kindheit und Jugend überwinden zu können.“

Es folgt die „Anwendung von Jungs Lehre, insbesondere seiner Typenlehre auf die Romanfigur Nastasja Filipowna Baraschkowa“: „Jung hätte möglicherweise zunächst mit ihr einen Assoziationstest gemacht, um gefühlsbetonte Komplexe herauszufinden. Jung könnte ihr gesagt haben, dass sie eine starke Persona, die Rang- und Statusmaske, ausgebildet hat […]“. Außerdem sei die Zuordnung der Figur zum „extravertiert intuitiven Typus“ nach C. G. Jung denkbar. Womöglich als nur scherzhaft zu sehen sind Jutta Riesters Spekulationen über eine mögliche Liebesbeziehung zwischen der literarischen Figur Nastasja Filipowna Baraschkowa und C. G. Jung in Analogie zu der berühmten (und in der Forschung sehr kontrovers diskutierten) Beziehung des Züricher Arztes zu Sabina Spielrein, sie entbehren jedenfalls jeglicher Grundlage und sind in einer solchen Studie wohl fehl am Platze: „Vielleicht hätten sich aber die beiden Protagonisten Jung und Nastasja Filipowna ineinander verliebt und auf eine intime Beziehung eingelassen, wie es zwischen Jung und Sabina Spielrein tatsächlich geschehen ist.“

Insgesamt gelangt Jutta Riester aufgrund ihrer Romananalysen und mehr oder weniger konsequent durchgeführter Parallelen zu Schlussfolgerungen folgender Art: „Dass Nastasja Filipowna Baraschkowa aber so gut in die theoretischen und therapierelevanten Kategorien der Gründerväter der Tiefenpsychologie hineinpasst, beweist, dass der Schöpfer dieser Romanfigur ein sehr guter, wahrscheinlich intuitiver Psychologe und ein Vorläufer der Tiefenpsychologie gewesen ist, auch wenn Dostojewski selbst sich nicht als Psychologe sah. Er wollte nur ein ‚Realist im höheren Sinne (sein), das heißt: ich zeige alle Tiefen der Menschenseele.‘“

Demnach wird Dostojewski in der zusammenfassenden Diskussion am Ende des Buches nacheinander als „früher Psychoanalytiker“, „früher Individualpsychologe“ und als „Jungianer“, als Repräsentant des von Josef Rattner vertretenen Personalismus sowie als Anthropologe durchleuchtet. Mit dieser Betrachtungsweise entgeht Jutta Riester der Klippe, Dostojewski lediglich zum Psychoanalytiker zu erklären und weist somit auf das breite Spektrum seiner psychologischen Kompetenz hin. Damit leistet sie auch Alfred Adlers Aufforderung Folge, Dostojewskis, „noch unausgeschöpft[e] Leistung“ als Psychologe zu untersuchen (letztere wurde von Freud vernachlässigt – er betrachtete den großen Russen in seiner berühmten Studie „Dostojewski und die Vatertötung“ nur als Dichter, Neurotiker, Ethiker und Sünder).

Die Fülle der Konzepte und theoretischen Postulate, mit denen Jutta Riester die Figuren und stellenweise Dostojewski selbst durchforstet und sachlich-nüchtern aufschlüsselt beziehungsweise „abgleicht“, verdeckt jedoch den Blick für die dunklen Abgründe des Erforschers seelischer Tiefen – und dies gilt sowohl für Dostojewski, der für Zweig ein in „einen dämonischen Angsttraum“ blickender „heißer Halluzinant“ war, als auch für den Tiefenpsychologen – auch der beste Psychoanalytiker befindet sich in einer „darkness in the midst of vision“, wie Breger gezeigt hat. „Die Ebene des Widerspruchs und des Zweifels“, welche Jutta Riester in Anlehnung an Bachtin in Dostojewskis polyphonem Stil entdeckt, wird auch nicht weiter ausgeführt, ebenso wenig geht Dostojewski aus ihrer Darstellung als „Dichter der Verzweiflung und der Verzweifelten, der Verbitterten und trotzdem Weisen“ hervor. Zu Freuds Vorwurf, Dostojewski habe sich den „Kerkermeistern“ der Menschheit angeschlossen, äußert sie sich ebenfalls nicht. Was sie bietet, ist gerade das von Dostojewski eher gering geschätzte „Aufgliedern der Seele“, das in ihrem Buch zwar aus verschiedenen Blickwinkeln erfolgt, letztendlich aber nur in Form „vollendet[er] Lehrstück[e]“ die psychologischen Lehrbücher ergänzen und das „Ausbildungscurriculum für Psychologen und Psychotherapeuten“ bereichern soll. Schon Stefan Zweig hat aber dringend davor gewarnt, Dostojewskis Werke als „Lehrbücher“ zu lesen – „denn sein Maß ist die Fülle, die Unendlichkeit“.

Ähnlich wie Zweig betont auch Louis Breger, dass Dostojewskis Werke ihre Antworten nicht als „fertige Extrakte“ („fixed essence“) verabreichen, sondern den Leser erst auf dem Umweg über den inneren Kampf und den „großen Ofen des Zweifels“ („great furnace of doubt“) erreichen – von Stefan Zweig „Purgatorien der Leidenschaft“ genannt. Von all dem ist in Jutta Riesters Dostojewski-Buch leider nichts zu spüren. Man muss Stefan Zweig nicht zustimmen, wenn er sich gegen jede Bezeichnung Dostojewskis als „Analytiker der Gefühle“ entschieden verwahrt und Dostojewskis Leistung eine „Astrologie der Seele“ nennt. Man muss auch Zweigs emphatische Einstufung von Dostojewski als Hellseher und Prophet und seiner Figuren als „Allmenschen“, „Allesversteher“ und „Überwissende“ nicht annehmen. Zustimmen kann man ihm aber, wenn er behauptet, Dostojewskis Psychologie sei „keine für grelles Lampenlicht“, sie „spotte“ ihrer „Bearbeiter“ und „Vereinfacher“. Nicht in der hellen, sterilen Welt der herausdestillierten Konzepte, sondern im Dämmerlicht des kreativen Prozesses und der psychoanalytischen Situation, im Fieber der Durcharbeitung der Konflikte, in der elektrisierten Atmosphäre der Übertragung zwischen Arzt und Patient und zwischen dem Autor und seinen Figuren, bei der die „Dämonie der Leidenschaft“ (Zweig) mit voller Wucht auf die Bühne tritt, und nicht zuletzt in der allzu menschlichen Anfälligkeit und Verletzlichkeit aller Akteure liegt das Verbindende zwischen Dostojewski und der Tiefenpsychologie.

Titelbild

Jutta Riester: Die Menschen Dostojewskis. Tiefenpsychologische und Anthropologische Aspekte.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012.
180 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783847100058

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