Die Extreme decken sich

Thomas Koebner hat einen Band über den Begriff „Ekstase“ in Natur, Kultur und Film herausgegeben

Von Jürgen WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als „aus sich selbst heraustreten“ oder auch „von einer fremden Macht besessen sein“ gilt gemeinhin als Definition der „Ekstase“, die gerne mit Tanz, Sexualität und Spiritualität in Verbindung gebracht wird. In dem von Thomas Koebner herausgegebenen Sammelband werden Studien zu verschiedenen Spielarten der Ekstase und ihrer Darstellung sowie Inszenierung – in der antiken Mythologie, in der Literatur, vor allem aber im Film und im Tanztheater – präsentiert. Die Feststellung, dass Ekstase auch eine anthropologische Grundkonstante sein könnte, überrascht vielleicht ebenso wie der Zusammenhang, der zwischen Ekstase und Askese hergestellt wird. In jedem Fall handelt es sich bei Ekstase nicht um eine bloße Freude am Feiern, wie der Begriff heute so gerne interpretiert wird, sondern durchaus um eine individuelle Hinwendung zur spirituellen Erfahrung, sei es im Kollektiv oder alleine in der Wüste.

Ästhetische Spielfreude, die zum Göttlichen führt

Zunächst stellt aber Gert Sautermeister in seinem Beitrag „Ekstase und Gegenkultur. Literarische und kulturhistorische Streiflichter“ die Ekstase in den Kontext des Spiels, das wohl ein ebenso kulturgeschichtlich aufschlussreiches Phänomen darstelle. Ekstase beschreibt er als „Brennpunkt der Leidenschaft und des Geistes“. Aber auch Empörung, Zorn und Trauer sieht Sautermeister als vielgestaltige Varianten des emotionalen Außer-sich-Seins im Bund mit hochgradiger intellektueller Erregung. Die „Freude am Feiern“ sei als eine „anthropologische Grundkonstante allgemein anerkannt und trage wesentlich zur Stiftung von Gemeinsamkeit und Wir-Identität bei“, so der Autor in Anlehnung an Johan Huizinga: Das Spiel sei fern von der Zweckrationalität des Alltags und seine Eigenart sei als freie selbstbestimmte Handlung zu bezeichnen, die gerade eben außerhalb der Sphäre der Nützlichkeit oder Notwendigkeit stehe. In der Antike sei der Mensch im Verlaufe dionysischer Feste nicht mehr Künstler, sondern selbst Kunstwerk geworden, die „Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches“, zitiert Sautermeister Franz Schultz. Dem Wesen der Welt innewerden, heiße auch bei Friedrich Nietzsche die Maxime der dionysischen Erfahrung. Als „metaphysischen Trost“ könnte man demnach nicht nur die Dramatisierung der Ekstase im und durch das Theater, sondern auch die Ekstase selbst bezeichnen: sie führt aus der niederen menschlichen Existenz hinauf zum Göttlichen und lässt so – wenn auch nur für einen Moment – das Göttliche erfahren. Sautermeister definiert demnach Ekstase aber nicht als ein einfaches Aus-sich-heraus-treten, es sei vielmehr „formbewusstes Außer-sich-sein: Sprengung von Konventionen durch Entladung der Gefühlswelt, Aufhebung geltender Normen durch geistigen Elan und ästhetische Spielfreude“.

Wiederherstellung der Gemeinschaft durch Tanz

„Moderne Tanzekstasen zwischen Form und Erfahrung“, der Beitrag von Eike Wittrock, widmet sich den institutionalisierten Formen des Tanzes, also dem Tanzen und der Musik als zwei Möglichkeiten zur „reinen“ Ekstase durch sich selbst zu kommen. Tanzen sei aber vor allem ein gemeinschaftliches Erlebnis, indem der Einzelne in der Masse aufgehe, das Individuum sich der Gattung unterordne und so geradezu zu einem äußerst wichtigen sozialethischem Ferment wird, so der zitierte Thomas Achelis 1902. Die biologische Metapher der „Gärung“ gefällt Wittrock in Bezug auf die Ekstase besonders, denn wie in der Käseproduktion, werde dadurch nicht nur der Übergang zu einem neuen Zustand beschrieben, sondern auch die Verbindung zu Rauschmitteln wie Alkohol hergestellt. Ekstase als soziales Bindemittel sei im 20. Jahrhundert besonders als Mittel zur Kurierung allgemeiner gesellschaftlicher Krisen betrachtet worden. Die Diagnose: „Entfremdung des Einzelnen in der Gesellschaft“ führe zu einem Wunsch nach einer (Wieder-)Herstellung von Gemeinschaft. Den Nürnberger Parteitag in diesen Zusammenhang zu stellen, würde hier wohl zu weit führen, aber eine gewisse Ästhetik der Ekstase wäre auch hier zu verorten, schließlich gehört Dominanz und Regression ebenso zum Kodex der Ekstase. Der Übergang in einen „neuen, rauschhaften Zustand“ kann also durch Bewegung (etwa im Tanz) mit oder ohne Rauschmittel erreicht werden, „gären“ wird es in jedem Fall.

Die Athleten der Verzweiflung

Als äußerst aufschlussreich erweist sich vor allem der Text von Hans Richard Brittnacher „Vom Hunger und von der Lust. Askese und Ekstase.“, der gerade in der Definition des Antonyms zur Ekstase, nämlich der Askese, zur besten Annäherung an eine Definition der Ekstase kommt. Für Simone Weil, die bekannte jüdische Marxistin, Mystikerin und Syndikalistin, die sich mit nur 34 (!) Jahren zu Tode hungerte, sei das Fett des Leibes „erstarrte Vergangenheit“ gewesen, Fasten sei hingegen ein Akt vorweggenommener Erlösung, der den Körper von der in ihm gespeicherten Vorgeschichte befreie. Erst die Nicht-Sättigung, das Hungern, gebe Anlass zu spiritueller Hoffnung – ein Gedanke der schon von vorchristlichen Sekten formuliert wurde. Die „Herstellung der Leere des Körpers“ sei Voraussetzung für die Erfahrung der Wahrnehmung des Göttlichen, zitiert Brittnacher Weil. Allerdings wolle der Hungernde, der sich von der Welt lösen will, auch dabei gesehen werden. Die „Athleten der Verzweiflung“ (Hugo Ball) wohnten nämlich mitnichten immer in Höhlen und Grabkammern, Zellen, Verliesen, Bergen oder Inseln oder gar in der Einsamkeit des Weltalls, sondern stellten sich allzu gerne in den Mittelpunkt, um Beachtung und Anerkennung für ihr Leiden zu bekommen. Die anachoresis, die Trennung von der Welt der Versuchung, falle deswegen so schwer, weil es doch zumindest die Schaulust zu befriedigen gäbe. Auch darin liegt dann wohl eine gewisse „Ekstase“.

Les extrèmes se touchent

„Nur wer hungert und sich kasteit, vermag seine Reinheit zu erhalten gegen eine Welt, die durch die Körperöffnungen in ihn eindringen will“, so eine mittelalterliche Vorstellung, in der vor allem die Algolagnie, also die „(Wol-)Lust am Schmerz“ eine Rolle spielte. Wer den Leib strafe, richte sich gegen die verdorbene Welt, in der die Dämonen hausten, gegen das Fleisch, das sündigt, gegen die Lust, die betört und verwirrt. Wer aber all dies abtöte – so die religiöse Vorstellung – lerne schon in dieser Welt zu sterben und nähere sich so dem Paradiese schneller an. Leiden sei so gesehen ein Gnadenerweis, der dem, der am Leiden teilhat, die Teilhabe am Paradies schon im Diesseits in Aussicht stellt. Franz Kafka habe das einmal so zusammengefasst: „Die wahren Unersättlichen sind vielleicht gar nicht die Völler, sondern die Asketen.“ Der Asket sei schon in dieser Welt, ein Gläubiger, der weiß, dass er den anderen enthoben und ihnen deshalb auch überlegen sei. Ecstasy in Asceticism, Ekstase in Askese. „Der Jogger – als Anorektiker – will den ,höheren Zustand der ekstatischen Vernichtung, die Ekstase des leeren Körpers, und der Fettleibige den höheren Zustand der dimensionalen Vernichtung: die Ekstase des vollen Köpers’ erreichen. Der Jogger als die Figur, die sich selbst erbricht und der Fettleibige, der frisst, weil ihm alles fehlt, sind so gesehen, die beiden Seiten derselben Kultur übersättigter Indifferenz“, so Brittnacher. „Les extrèmes se touchent“, wie man in Frankreich sagt.

Weitere Beiträge stammen unter anderem vom Herausgeber Thomas Koebner, Matthias Bauer, Susanne Gödde, und von Michelle Koch.

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Thomas Koebner (Hg.): Ekstase. Projektionen. Studien zu Natur, Kultur und Film, Band 6: Ekstase.
edition text & kritik, München 2012.
203 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783869161839

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