Albträume eines Geistersehers

Frank Schirrmacher malt ein düsteres Bild von den Auswirkungen des Informationskapitalismus und beschwört die Wiederkehr des Homo oeconomicus

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ analysiert Sigmund Freud diesen sehr aufschlussreichen Witz: „Zwei Juden treffen sich im Eisenbahnwagen einer galizischen Station. ‚Wohin fahrst du?‘ fragt der eine. ‚Nach Krakau‘, ist die Antwort. ‚Sieh her, was du für Lügner bist‘, braust der andere auf. ‚Wenn du sagst, du fahrst nach Krakau, willst du doch, daß ich glauben soll, du fahrst nach Lemberg. Nun weiß ich aber, daß du wirklich fahrst nach Krakau. Also warum lügst du?‘“

Frank Schirrmacher zitiert diesen Witz in seinem neuen Buch „Ego“ natürlich nicht. Aber er könnte ihm gefallen, da er Grundzüge der von Schirrmacher ausgemachten Tragödie der kapitalistischen Kultur benennt. Nun geht es, zugegeben, in diesem Witz, der vor allem Zeugnis der erstaunlichen jüdischen Witzarbeit im Zeichen der Selbstkritik ist, nicht um Auswüchse des Kapitalismus. Auf dem Prüfstand steht aber die vermutete Unmöglichkeit der direkten, uncodierten und aufrichtigen Wahrheitsbekundung. Schirrmacher könnte diesen Witz zur Untermauerung seiner These heranziehen, dass jegliche Kommunikation mittlerweile als Auswuchs der Spieltheorie zu begreifen sei. Diese besagt (in der für Schirrmacher relevanten Form), man müsse immer damit rechnen, dass die Aussagen des Gegenübers nicht für bare Münze zu nehmen seien, da jeder nur den egoistischen Vorteil im Sinn habe und exakt diese Voraussetzung auch allen anderen unterstelle. So sei es im Kalten Krieg gewesen, als der anderen Seite das Schlimmste zugetraut, also auch das Schlimmste angedroht wurde, und so sei es nach dem Zusammenbruch des Ostblocks auch im globalen Wirtschaftsleben geworden.

Schirrmacher liefert eine Sprach-, Kultur- und Ideologiekritik des (finanz-)ökonomischen Denkens und Gebarens der letzten Jahrzehnte. Er malt ein Schreckensbild der schönen neuen Wirtschaftswelt und versucht, die Wegmarken der Entwicklung hin zu dieser Welt freizulegen und die fragwürdige Logik des damit verbundenen Menschenbildes erkennbar zu machen. Das Modell des Homo oeconomicus, der nur auf Eigennutz ausgerichtete, stets rationale handelnde und umfassend informierte Wirtschaftsakteur, sei lebendig geworden wie Frankensteins Monster. Kritisiert werden zwar die wahnwitzigen Auswüchse des „Informationskapitalismus“, besorgt ist Schirrmacher aber vor allem über „den Seelenhaushalt des modernen Menschen“, den, wie er darlegt, Ökonomen zu ihrer Sache gemacht haben.

Modelliert von Physikern, Mathematikern und Ökonomen sei der Mensch zur planbaren Größe geworden, der man mit Hilfe von Algorithmen optimierte Konsumanreize liefern kann. Da die Theorie vom wirtschaftlichen Menschen nicht nur beschreibend gewesen sei, sondern auch normativ gewirkt habe, sei die Vorherrschaft des Egoismus nicht nur postuliert, sondern erzeugt worden. Indem das Modell zur Realität geworden sei, müsse jeder annehmen, dass auch jeder andere egoistisch ist, weshalb „soziale Beziehungen fundamental verändert“ würden. Besonderes Anliegen ist Schirrmacher mithin der Hinweis, dass die gleichen Mechanismen, die auf den weltweiten Finanzmärkten zur umfassenden Krise geführt haben, unser soziales Leben regeln. Dies geht in eine Angst vor dem „großen Computer“ über, der sich die Sorge um die Demokratie zugesellt, da diese den Aussagen von Staatsoberhäuptern zufolge „marktkonform“ sein müsse. Das ist im Grunde der (im Wesentlichen bereits bei anderen Autoren nachlesbare und von einer kritischen Ökonomik und Kulturwissenschaft längst diskutierte) gedankliche Gehalt dieses Buches, der durch Beispiele, Zitate und Anekdoten illustriert wird. Knapp 300 Seiten lang, auf denen der Homo oeconomicus beschworen wird, oder wie Schirrmacher ihn zumeist nennt: „Nummer 2“ – da es sich um eine Art digitalen, aber immer realer werdenden Doppelgänger handele, der unsere Entscheidungen treffe.

Schirrmacher holt weit aus. Ob er nun langatmig die Verfertigung von menschenähnlichen Automaten im 18. Jahrhundert, Schauerromane des 19. Jahrhunderts oder die strukturellen Ähnlichkeiten der modernen Finanzökonomie mit der Alchemie anführt: Alles steht im Dienste einer großen Erzählung, die zu erklären vorgibt, wie es so weit kommen konnte. Das schürt menschliche Urängste vor der Herrschaft der Maschinen, vor der universalen Kontrolle, vor anonymen Mächten. Immer wieder greift Schirrmacher zu verschwörungstheoretischen Sprachgesten, etwa wenn er betont, dass sich etwas „in Wahrheit“ ganz anders verhalte als allenthalben vermutet. Der Verfasser ist offenbar einer der Initiierten, die außerhalb des allumfassenden Verblendungszusammenhangs stehen. Er hat dem Bild zu Sais den Schleier entrissen und spricht nun zu uns, um uns vor der digitalen Verdummung zu erretten.

Wie Joachim Rohloff im „Merkur“ so trefflich veranschaulichte, liefert dieses Buch einen abermaligen Beleg dafür, dass handwerkliche Sauberkeit beim Schreiben eines Bestsellers eher hinderlich ist. Manche der zahlreichen Zitate werden mit einer Endnote nachgewiesen, andere nicht. Das Literaturverzeichnis verzeichnet die Titel zudem teilweise nicht korrekt. Das kann passieren, ist in dieser Häufung aber ärgerlich. Weit gravierender ist, dass ideengeschichtlich nichts Neues präsentiert wird. Dass der Status des Homo oeconomicus zwischen Deskription und Normativität flottiert, ist nicht erst seit dem Ende des Kalten Krieges zu konstatieren. Wodurch sich der moderne Homo oeconomicus als Bastard von Digitalisierung und Ökonomisierung von seinen älteren Verwandten unterscheidet, bleibt dunkel. Die poltischen und moralischen Anliegen sind allesamt nicht konsequent ausgearbeitet und nicht zu Ende gedacht. Die Metaphorik, die handfestes Theoretisieren ersetzt, ist häufig schief, das Bonmot ersetzt das Argument.

Zu diesen sachlichen Einwänden kommen ästhetische. Schirrmacher verleiht seinem Text kurzerhand eigenmächtig literarische Weihen, indem er ihn auffallend häufig als „Erzählung“ bezeichnet. Als Erzählung indes ist dieses Buch gründlich misslungen. Wenn es wenigstens eine schlanke, stringente Erzählung wäre! Stattdessen ist es ein zu korpulent geratenes, sich als Narration camouflierendes populärwissenschaftliches Lamento bar jedes Spannungsbogens, in dem die gleichen Beschreibungen sich beständig wiederholen, dessen Plot bestenfalls assoziativ ist und dessen Pointe schon nach wenigen Seiten auf der Hand liegt. Verkaufen wird sich das Ganze selbstredend glänzend. Was das über die kulturelle Landschaft aussagt, wäre eigens zu diskutieren.

Trotzdem ist das Buch vielleicht kein völlig unwichtiges. Die Konstellation, dass aus dem konservativen Lager nun kapitalismuskritische Denkanstöße geliefert werden, ist zumindest bemerkenswert. Schirrmacher benennt Dinge, die man zwar schon wissen konnte, weil sie anderswo weit besser und konziser aufgearbeitet sind, die aber von einer solchen Dringlichkeit sind, dass sie öfter gesagt werden müssen. Auch und gerade, wenn es dabei ohne großes Poltern nicht zugehen kann. Scheinbare Selbstverständlichkeiten sind nun mal so hartnäckig, dass es mit der erforderlichen Aufklärung nicht rasch getan ist. Es muss manches enervierend oft gesagt werden, bis es im allzu uniformen Stimmengetön gehört wird. Und manches muss von jemandem gesagt werden, dem viele Leute zuhören und der unverdächtig ist, einem Lager anzugehören, dem man ohnehin nicht über den Weg traut. Zweifellos sind die Geschichten, die hier von den Aktien- und Finanzmärkten erzählt werden, schockierend und alarmierend. Schirrmacher lässt erkennen, wie kryptisch, abstrakt, hermetisch und geradezu pervers dieses Spiel funktioniert und dass der Markt mitnichten ein harmonisch-organisches, nach Naturgesetzen funktionierendes Gebilde ist. Wenn sich also einer wie Frank Schirrmacher kritisch mit Grundlagen, Phänomenen und Folgen des Kapitalismus auseinandersetzt, dann eignet dem solcherart angestimmten Weheklag eine Klangfärbung, die außergewöhnlich ist und Aufmerksamkeit garantiert. Das mag den geschäftsmäßigen Systemkritikern aus konkurrierenden Lagern gefallen oder nicht. „Ego“ möge in wenigen Monaten zu Recht vergessen sein. Die Dinge, von denen Schirrmacher erzählt, sind aber so wichtig, dass jeder Denkanstoß, der eine Debatte auch außerhalb immer schon kapitalismuskritischer Kreise initiieren könnte, wertvoll ist. Gerade deshalb hätte man sich ein weniger misslungenes Buch gewünscht.

Ist Schirrmacher nun ein Renegat, der seine weltanschaulichen und politischen Wurzeln kappt? Wohl kaum. Die Sorge um die Zukunft der „Bildung“, die angestrebte Rettung des „Wissens“ vor der bloßen „Information“ und die Sehnsucht nach einer Art des Wirtschaftens, die nicht nur menschlich, sondern vor allem nachvollziehbar, konkret und greifbar ist (und bei der man die Aktienkurse noch in Ruhe beim Frühstück in einer überregionalen Zeitung studieren kann), sind bestens mit einem konservativen Wertekanon zu vereinbaren. Zumal man sich keine Sorgen darüber machen muss, dass Schirrmacher plötzlich den Klassenkampf ausruft oder sich auch nur einen Sekunde um die existentiellen Nöte einer wie auch immer umrissenen Unterschicht kümmert. Doch wenn jetzt sogar schon die besserverdienenden Wertkonservativen den eisigen Hauch der Entfremdung verspüren, dann tönt dieses Klagelied freilich umso brachialer.

Titelbild

Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Lebens.
Blessing Verlag, München 2013.
352 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783896674272

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