Eine Massenorgie und die Liebe zu einer Ziege

Andrea Camilleri schreibt zu viel und zu wenig Gutes, wie seine Romane „Der Hirtenjunge“ und „Die Sekte der Engel“ zeigen

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Junge Frauen und Mädchen zwischen 15 und 26, die alle zum selben Zeitpunkt schwanger werden, eine Cholera-Epidemie, wegen der das halbe Dorf flieht, die adligen Honoratioren des Orts und ihr Verein „Ehre & Familie“, ein paar Pastoren, der kritische Rechtsanwalt Teresi und ein piemontesischer Polizeipräfekt, der sich nicht einschüchtern lässt, ein versuchter Mord an einem jungen Mann, der Selbstmord eines schwangeren Mädchens, der Selbstmord eines Priesters – das sind die Zutaten des neuen Romans „Die Sekte der Engel“ von Andrea Camilleri. Die Handlung überstürzt sich, die Geschichte wird immer verworrener und verwickelter, es ist eine wahre Hetzjagd.

Sein zweites neues Buch, „Der Hirtenjunge“, handelt von dem vierzehnjährigen Giurlà, der am Meer lebt und, weil seine Familie kein Geld hat, als Ziegenhirt in die Berge ziehen muss. Schnell gewöhnt er sich an die Arbeit, an die Natur, an das Fehlen des Wellenrauschens, an die Ziegen, auch an die Frauen, die jeden Abend zum Melken kommen. Er entdeckt die Sexualität, erlebt Versuchungen und Loyalität und die Einsamkeit. Und schließlich verliebt er sich in seine Ziege Beba, mit der er auch Sex hat. Und als Anita, die Tochter des Großgrundbesitzers und Grafen einen Unfall hat, muss er sich zwischen Ziege und Frau entscheiden.

Camilleri ist ein Vielschreiber. Drei, vier Romane im Jahr – das kann auf Dauer nicht gutgehen. Tut es auch nicht, man merkt es leider ziemlich schnell. Dabei kann er eigentlich gut schreiben. Die sich überstürzenden Verwicklungen in „Die Sekte der Engel“, die wie so oft in Dialogform geschrieben sind, sind etwas, das ihm so schnell niemand nachmacht. Die sozialkritischen Anmerkungen, die treffenden Beschreibungen von normalem Dorfleben und Intrigen, die manchmal nur nebenbei angedeutet werden, das ist gekonnt. Ebenso und ein wenig überraschend die pastorale Idylle, die Natur der sizilianischen Berge, die Gedanken und Gefühle eines einsamen, sensiblen Jungen, auch das ist schön zu lesen.

Dennoch sind beide Bücher nicht gelungen. In „Die Sekte der Engel“ weiß oder ahnt der aufmerksame Leser eigentlich schon nach etwa 50 Seiten, was sich im Buch noch weitere 180 Seiten hinschleppt: dass die Priester in einer Massenorgie die Frauen vergewaltigt haben, und dass Teresi für die Aufklärung büßen muss. In „Der Hirtenjunge“ verläppert Camilleri diese etwas romantisierende, aber doch auch realistische ländliche Story mit der seltsamen Geschichte von Anitas Krankheit und Heilung und der Hochzeitsnacht: Da liegt sie in Giurlàs Armen und macht mit der Stimme seiner geliebten Ziege „Määh“.

Und so hängt man bei Camilleri zwischen der Bewunderung seiner starken Fantasie und dem Wunsch, er würde seine Produktion ein wenig drosseln und sich etwas mehr konzentrieren, damit seine Bücher wieder die Stringenz und Überzeugungskraft der frühen Zeit bekommen. Denn lieber liest man doch weniger von ihm, aber besseres.

Titelbild

Andrea Camilleri: Der Hirtenjunge.
Übersetzt aus dem Italienischen von Moshe Kahn.
Kindler Verlag, Berlin 2013.
208 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783463406053

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Titelbild

Andrea Camilleri: Die Sekte der Engel. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2013.
240 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783312005512

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