Das Wirkliche und das Unheimliche

Routiniert, reduziert, raffiniert – Hartmut Langes Novellenband „Das Haus in der Dorotheenstraße“

Von Friederike GösweinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Gösweiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mann, der nicht über den Tod seiner Frau hinwegkommt und verzweifelt nach einem bestimmten Kunstposter aus ihrem Besitz sucht, das er leichtsinnig weggegeben hatte, ein diensteifriger Bürgermeister, der glaubt, von einer Krähe verfolgt zu werden, ein Journalist, dem seine Frau abhanden kommt, als er als Korrespondent nach London geht, ein Mann, dem beim Spazieren eine tote Cellistin begegnet, und eine Frau, die immer öfters abends vergeblich darauf wartet, dass ihr Mann von seinen Dienstreisen heimkommt, bevor sie schlafen geht – das sind die fünf Charaktere, um die Hartmut Langes Novellen kreisen, die „Das Haus in der Dorotheenstraße“ versammelt.

Alle fünf Novellen spielen zum größten Teil im südwestlichsten Zipfel Berlins, in Teltow, das Hartmut Lange bestens kennt. Wenigen Sätzen genügen ihm, um ein plastisches Bild der äußeren Umgebung zu zeichnen, in der sich die Figuren bewegen. Mitten in diese fein gezeichnete Wirklichkeitsoberfläche bricht im „Haus in der Dorotheenstraße“, wie das in Langes Novellen immer der Fall ist, dann das Unheimliche ein – und plötzlich wird einer den Gedanken nicht mehr los, auf der Rückbank seines Wagens säße eine Krähe, die sich selbst durch eine plötzliche Vollbremsung auf einer Landstraße nicht von dort entfernen lässt. Manchmal sind die unerhörten Begebenheiten auch nicht ganz so unheimlich: Wenn sich beharrlich eine fremde Männerstimme am anderen Ende des Telefons meldet anstatt der eigenen Frau, und nur im Hintergrund eine Frauenstimme lacht, dann kann der Ehemann, als Korrespondent im fernen London, wohl davon ausgehen, dass seine Frau, die allein im Haus in der Dorotheenstraße in Berlin sitzt, sich mit einem Anderen vergnügt. Mit Sicherheit wissen kann er es aber nicht, immerhin besteht die Möglichkeit, dass er sich verwählt hat oder die Leitung gestört war, zumindest hält das Langes Figur für möglich – oder möchte es für möglich halten.

Wie es sich nun tatsächlich verhält, ob diese Frau ihrem Ehemann untreu geworden ist oder ob sich Langes Held das doch nur einbildet, vielleicht auch, weil er gerade Shakespeares „Othello“ im Theater gesehen hat und glaubt, etwas Ähnliches zu erleben, das möchte Lange auch gar nicht auflösen. Ihn interessiert etwas Anderes: Was zählt, ist die Irritation, die bleibt; die den Figuren den Boden unter den Füßen wegreißt, sie nicht mehr zur Ruhe kommen lässt, die Wirklichkeit bizarr verzerrt und unheimlich erscheinen lässt.

Liest man Langes Novellen aufmerksam, wird man feststellen, dass es geradezu unmöglich scheint, diese Irritationen, die den Figuren „passieren“, zur Gänze rational und logisch aufzulösen. – Weil der Mensch eben kein reines Vernunftwesen ist. Es ist die menschliche Vorstellungskraft, seine unbändige Fantasie, die einen Löwenanteil hat an der Konstruktion dessen, was wir gemeinhin Wirklichkeit nennen. Deshalb begnügt sich der Erzähler in Langes Novellen auch damit, lediglich Vermutungen über Motive und Handlungen der Figuren anzustellen. Eine objektiv nacherzählbare Wirklichkeit kann es nicht geben, schließlich ist es das rege Innenleben jedes Einzelnen, das die Wahrnehmung der äußeren Welt bestimmt, bewusst oder unbewusst.

Langes Novellen muten vielleicht ein wenig altmodisch an, sicher sind sie kein bisschen trendig oder modisch. Gewissermaßen sind sie zeitlos elegant und klug. Was Lange sagt, galt schon immer. Heute gilt es vielleicht aber in besonderem Maße. Zumindest bestätigen diverse Hypes und Krisen der letzten Jahre Langes These: dass tatsächlich kleinste Irritationen von außen genügen, um große und gänzlich irrationale innere Reaktionen hervorzurufen. Insofern verbirgt sich in den fein gearbeiteten kleinen literarischen Leckerbissen, die Hartmut Lange im „Haus in der Dorotheenstraße“ vorsetzt, auch eine kluge Zeitdiagnose. Die Wirklichkeit ist eben auch heute – oder: gerade heute – eine höchst subjektive und keineswegs rationale Angelegenheit.

Titelbild

Hartmut Lange: Das Haus in der Dorotheenstrasse. Novellen.
Diogenes Verlag, Zürich 2013.
128 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783257068467

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch