Die Rückseite der Geschichte
Petra Renneke entschlüsselt Formen des verdeckten Wissens in Barbara Honigmanns Prosawerken
Von Michael Braun
Barbara Honigmann sitzt zwischen verschiedenen Stühlen der Gegenwartsliteratur. Jüdin und Deutsche, 1972 bis 1975 Dramaturgin an DDR-Theatern und seit 1986 Romanautorin, deutsch schreibende Autorin in Frankreich (sie lebt seit 1984 in Straßburg) – kurzum, eine transkulturelle „Grenzgängerin“. So wird Barbara Honigmann, im Einklang mit der Forschung, eingangs der Studie der Paderborner Literaturwissenschaftlerin Petra Renneke vorgestellt. Es ist die erste umfassende monografische Einführung in das Werk und die Rezeption von Barbara Honigmann, ein umsichtiges und anregendes Buch.
Zwischen den Kulturen, die sich in Barbara Honigmanns Büchern verschwistern oder manchmal auch entzweien, steht das verborgene, verschüttete, zurückgehaltene Wissen der Moderne. Es ist ein unbegriffenes Wissen, das unterhalb der Ordnung der Dinge schwelt und, weil in steter Gefahr vergessen zu werden, ein „prekäres Wissen“ ist (Martin Mulsow).
Honigmann, so der leitende Gedanke Petra Rennekes, rekonstruiert dieses verstummte Wissen der Moderne in den ursprünglichen Denkfiguren von Kindheit und Familie, Sprache und Bild. Diese Ursprünge sind vor allem auch in der jüdischen Geschichte, in der rabbinischen und talmudischen Tradition verortet. Dabei geht es nicht um ein Zurück zu den Wurzeln, sondern um eine symbolische Lesart der ausgeblendeten Seiten in den von der Moderne entleerten „Geschichts-Räumen“. Davon erzählt einsichtig die dem jüdischen Gelehrten Gershom Scholem gewidmete Geschichte „Doppeltes Grab“ in Barbara Honigmanns Debütband „Roman von einem Kinde“ (1986).
Petra Rennekes Lektüren machen den teils melancholischen, teils heiteren Umgang Barbara Honigmanns mit diesen Ursprungsfiguren nachvollziehbar. Sensibel lege die am Studium der Tora geschulte Autorin die Spuren zu den im Prozess der Säkularisierung verschwundenen Wortbedeutungen frei, von „Grazie“ oder „Erlösung“, von „Exil“ und „Erlösung“ etwa. Auch in der selbstbezüglichen Sprache der Liebe in den Romanen „Eine Liebe aus nichts“ (1991) und „Alles, alles Liebe!“ (2000) entdeckt Renneke einen sensitiven Gestus, der weniger autobiografisch ist als vielmehr traditionskritisch und zugleich traditionsrekonstruktiv. Aus diesem Widerspruch entstehe eine „Dialektik zwischen Wissen und Nicht-Wissen“. Paul Celan hat das in den Vers gefasst: „Abtrünnig erst bin ich treu“.
Wenngleich Petra Rennekes These bei Honigmanns jüngstem Buch „Bilder von A.“ (2011) nicht mehr so zupackend greift, so ist sie überzeugend genug, um neues Licht auf Honigmanns Schreiben zu werfen, auch (so paradox das klingt) im „Schatten des Verstehens“. Dieses Schreiben steht, so das Resümee der Arbeit, zwischen Säkularisation und mythologisch entzauberter Moderne.
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