Ausblick von den Elfenbeintürmen

„Die Zukunft der Geisteswissenschaften in einer multipolaren Welt“, ein von Jürgen Mittelstraß und Ulrich Rüdiger herausgegebener Tagungsband des Konstanzer Wissenschaftsforums, wagt die Bestandsaufnahme

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch wenn die Globalisierung hauptsächlich von der Wirtschaft und Politik vorangetrieben wird, so nimmt sie durchaus Einfluss auf das Wesen und Selbstverständnis der Geisteswissenschaften: Ob und wie sie sich in der neuen multipolaren Welt verändern, anpassen oder neu ausrichten müssen, worin ihr Nutzen liegt oder liegen könnte, sogar worin ihre Existenzberechtigung besteht, wird seit einem Jahrzehnt in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen von der wissenschaftsinteressierten Öffentlichkeit rege diskutiert. Der Frage nach der Zukunft der Geisteswissenschaften sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch im Dezember 2011 im Pergamonmuseum in Berlin bei einer vom Konstanzer Wissenschaftsforum, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der VolkswagenStiftung veranstalteten Tagung aus fachlich wie geografisch-kulturell unterschiedlichen Perspektiven nachgegangen. Nachzulesen ist eine Auswahl der Beiträge im von Jürgen Mittelstraß und Ulrich Rüdiger herausgegebenen Sammelband „Die Zukunft der Geisteswissenschaften in einer multipolaren Welt“.

Mittelstraß stellt in der Einführung klar, dass es heutzutage um Verwertbarkeit und Anwendbarkeit, ja marktorientierte Wissenschaften geht, er sieht aber auch den Bedarf an Kulturwissen. Wer über Sprach-, Landes- und Kulturgrenzen hinweg agieren will, braucht Experten für das Fremde. Die Geisteswissenschaften könnten der Gesellschaft eine Idee, eine Orientierung geben, fügt er hinzu. Sie seien ein „Ort, an dem sich die moderne Welt, die moderne Gesellschaft ein Wissen von sich selbst verschaffen, und dies in Wissenschaftsform“. Allerdings müsse man dafür den Elfenbeinturm verlassen, auf andere zugehen und den Dialog suchen.

Der erste Beitrag sieht die globale Wissenschaftswelt mit den Augen eines deutschen Historikers. Jürgen Osterhammel stellt eine Asymmetrie in Schule und Hochschule fest. Die Geschichte außerhalb Europas sei viel zu selten Gegenstand des Unterrichts, von Seminaren oder Forschungen. Die meist nationalen Profile der Geisteswissenschaften bereiten nicht auf eine multipolare Welt vor und unterliegen zudem nationalen Bildungsaufträgen. Andererseits gibt es in der anglophonen Wissenschaft Weltzentren, die ausschließlich in englischer Sprache beste Forschungsbedingungen bieten und wie ein Magnet den brain drain vorantreiben, der beiden Seiten nutzt, die Wissenschaftsbasis in den Herkunftsländern der jungen Talente allerdings schmerzlich ausdünnt. Da die Geisteswissenschaften weniger leicht transferierbar sind als die Naturwissenschaften, hält sich das Ausmaß in Grenzen. Europäische Wissenschaftskonzeptionen sind nämlich nicht immer mit asiatischen, amerikanischen oder afrikanischen kompatibel, aber die Zusammenarbeit mit Vertretern einer fremden Gelehrtentradition birgt auch Chancen, gerade in den so genannten kleinen Fächern. Im Bereich der Regionalgeschichte stellt Osterhammel dennoch eine fast gänzlich fehlende Vernetzung der Wissenschaftler über die Landesgrenzen hinaus fest. Schließlich sei auch die Topografie der Geisteswissenschaften im ökonomischen Weltsystem asymmetrisch, würden Kollegen aus unterentwickelteren Staaten weitgehend mit Ignoranz bedacht. Der Historiker warnt mit seiner polemischen Frage, ob eine letzte, anerkannte Aufgabe etwa in der Konservierung von Erhaltenswertem, der touristengerechten Darstellung nationaler Geschichte besteht?

Der Deutsche Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, sieht gerade in den Museen, Archiven und Bibliotheken die Zukunft der Geisteswissenschaften. Sie böten eine Zugriffsmöglichkeit auf das Material, aus dem Projektideen hervorgehen, mit dem Theorien überprüft oder Provokationen untermauert werden. Die zahllosen sehr speziellen Projekte, Institutionen und Forschungsgebiete müssten allerdings digitalisiert, internationalisiert und weltweit vernetzt werden. Supranationale Einrichtungen, offen für Besucher aller Art und jeder Herkunft, schaffen ein globales Verantwortungsbewusstsein für Kulturgüter, unabhängig davon, wo sie sich befinden oder wer sie für sich beansprucht: „Es braucht Orte, an denen die Welt sich selbst betrachten kann.“

Ein ganz anderer Aspekt steht für Afrika im Vordergrund. Seine Bevölkerung hat drei große Globalisierungsprozesse durchlaufen, wurde kolonialisiert, islamisiert und christianisiert, und bekam in der neuen Weltordnung einen Platz an der Peripherie. Der Kameruner David Simo fordert deshalb gerade von den Geisteswissenschaften Unterstützung bei der Schaffung eigener afrikanischer Kultur, Wissenschafts- und Wertesystemen, ohne dabei deren Autonomie zunichte zu machen. Besonders die Pluralität kultureller Ausdrucksformen in Europa könnte ein Vorbild sein, dem bisherigen Mangel an eigener, nicht eurozentrischer Geschichte und Kultur, mit echtem einheimischem Patriotismus etwas entgegenzusetzen.

Im Mittleren Osten und Nordafrika gibt es andere grundlegende Probleme. Auch oder gerade die geisteswissenschaftlichen Studiengänge unterliegen einer extremen Joborientierung, es wird nur gelehrt und gelernt, was direkt im Beruf einsetzbar ist. Die Fähigkeit frei und kritisch zu denken gehört nicht dazu, so wird folglich mancherorts Philosophie gar nicht als Studienfach angeboten. Ein weiteres Manko sind fehlende Fremdsprachenkenntnisse. Sie nehmen die Möglichkeit zum Austausch oder behindern den Zugriff auf fremde Informationsquellen, auch in den neuen Medien. In einer Region, in der der Austausch von Waren, Menschen und Ideen stark eingeschränkt, die Verbreitung des Internets niedrig, der Analphabetismus groß ist und Schulbesuche wie Berufsqualifikationen immer noch eine Gender-Frage sind, welche Zukunft können dort die Geisteswissenschaften haben? Die im Libanon geborene Französin Dyala Hamzah vergisst in ihrem Beitrag nicht, auf die problematisch große Vielfalt an Religionen, Staats- und Gesellschaftsformen hinzuweisen und macht die Entwicklung der Fremdsprachenkenntnisse zum obersten Ziel.

Die deutsche Theologin Regina Ammicht Quinn sieht die Zukunft der Geisteswissenschaften nicht im Nützlichen sondern im Überflüssigen. Die Ethik, ihr Fachgebiet, stellt infrage, erzeugt Unsicherheit und fördert die (Selbst-)Reflexion. Gerade die Sicherheit gehört heute aber zu den wertvollsten Zufriedenheitsgaranten. Da Probleme Lösungen fordern, hilft die Ethik bei der Orientierung und der Antwort auf die Frage „Wie geht ‚gutes Leben‘?“ Der Beitrag selbst gibt ein Beispiel, er umrahmt und durchzieht das in Stücken zitierte Brecht-Gedicht „Abgesang“, das laut Ammicht Quinn „ein Bild des Abgesangs auf die Geisteswissenschaften“ sein könnte. Ein Blick in die Zukunft der Geisteswissenschaft mit Literatur, Philosophie und Metaphern? Liegt diese metaphorische Zukunft in der Orientierung durch Verlangsamung, als „Fahrradbremse“, als „Navigationssystem“ oder als „Kompass“?

Eine langfristig demokratiegefährdende „weltweite Krise der Bildungsarbeit“ hat die amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum ausgemacht. Ihrer Meinung nach schulen die Geisteswissenschaften Fähigkeiten, die benötigt werden, um Demokratien lebendig zu halten. Sie bilden entwickelte, selbstständig denkende Bürger aus, die den Stellenwert der Leiden und Leistungen anderer begreifen können. Das Zusammenstreichen geisteswissenschaftlicher Fächer in Curricula, Köpfen und Herzen von Eltern und Kindern führt dazu, dass Fantasie, Kreativität und stringentes kritisches Denken an Bedeutung verliert. Ein alleiniges Streben nach Besitztümern lässt uns Dinge vergessen, „die uns zu Menschen machen und dafür sorgen, dass unsere zwischenmenschlichen Beziehungen Tiefe und Weite haben und sich nicht auf bloße Brauchbarkeit und Manipulation beschränken.“

Fähigkeiten gehen verloren, die das gute Funktionieren einer Demokratie sichern und imstande sind eine Weltkultur zu schaffen, die fähig ist die drängendsten Probleme der Welt konstruktiv anzugehen. Fähigkeiten, die die Geisteswissenschaften und Künste fördern: wie kritisches Denken, über lokale Bindungen hinaus zu denken, Probleme der Welt als „Weltbürger“ anzugehen oder sich in die Notlage eines anderen Menschen versetzen zu können. Schließlich bereitet Bildung auch auf ein sinnvolles Leben vor. Jede leistungsfähige Wirtschaftskultur braucht fantasievolle und kritische Persönlichkeiten, Menschen, die Dinge infrage stellen, Neues schaffen, sich mit anderen produktiv auseinandersetzen. Das müssen nicht alle Bürger einer Demokratie gleichermaßen tun, aber es muss sie geben.

Der letzte Beitrag vom deutschen Hans J. Markowitsch und Angelica Staniloiu aus Rumänien, beide von der Universität Bielefeld, ist der Geschichte der Psychologie gewidmet. Tatsächlich beschäftigt er sich hauptsächlich mit der Vergangenheit und der in Gegenwart und Zukunft nicht vorhandenen Verbindung zu den Geisteswissenschaften. Ein Bezug zum Tagungsthema lässt sich im Text nicht herstellen, die Zukunft wird wohl wie die Vergangenheit ohne eine geisteswissenschaftliche Psychologie bleiben.

Sieben Beiträge, sieben Meinungen, wissenschaftlich fundiert und dennoch aus der Eigenperspektive, weniger für ein breites multipolares Publikum geschrieben. Die Querverbindungen fehlen und wer fächer- und weltübergreifende Zukunftsvisionen für die Geisteswissenschaften erhofft oder erwartet, wird enttäuscht. Jeder Beitrag ist für sich eine Bereicherung. Die einzelnen Problembereiche sind aber so unterschiedlich wie die Fächer der Geisteswissenschaften und ein gemeinsamer Nenner ist im vorliegenden Buch nur sehr schwer auszumachen.

Titelbild

Jürgen Mittelstraß / Ulrich Rüdiger (Hg.): Die Zukunft der Geisteswissenschaften in einer multipolaren Welt.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2012.
110 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783879408313

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch