Die Freiheit nächtlicher Blicke
Gerbrand Bakkers Roman „Der Umweg“ veranstaltet ein virtuoses Perspektivspiel
Von Anna Laqua
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Durch die Fenster kommt der Tod“: So lautet eine im Mittelalter verbreitete Warnung, die – im Rückbezug auf Jeremia 9,20 und auf die schon in der Antike gebräuchliche Sinnesmetapher des Fensters – das Eindringen der Sünde in die menschliche Seele beschreibt. Doch durch die Fenster kommt bisweilen auch etwas anderes: „Dies Fenster ist mein Trost“, lässt E. T. A. Hoffmann 1822 einen gelähmten, sterbenskranken Schriftsteller verkünden, der in seiner kleinen, beengten Wohnung durch den bloßen Blick auf den Berliner Gendarmenmarkt noch so etwas wie gesellschaftliche Teilhabe erlebt.
Auch der Roman „Der Umweg“ des Niederländers Gerbrand Bakker beschreibt die Verkleinerung des Lebensradius und die sozialen Absonderungsbewegungen, die eine todkranke Amsterdamer Universitätsdozentin in ihren letzten Lebenswochen im nordwestlichen Wales unternimmt. Zuletzt wird sich die Reichweite dieses Lebens gerade einmal auf eine schmale Matratze belaufen und hier auch sein Ende finden. Es ist dies die Matratze aus einem Gedicht Emily Dickinsons, das dem Roman vorangestellt ist und mit dem er auch epilogisch schließt.
Die motivische Klammer der Matratze, die hier zum Signum der äußersten Dezimierung von Lebensraum wird, verrät bereits einiges über ein zentrales, narratives Prinzip des Buches. Denn hier erzählt der Raum selbst von krankheitsbedingter Isolation, er ordnet sich zu einer differenzierten Topologie der Regression. Inmitten der tristen, von Landflucht gezeichneten walisischen Einöde veranschaulichen die Umzäunungen, die Bakkers Heldin Agnes mühsam um ihr einsam gelegenes Haus errichtet, augenfällig den Vorgang der Ab- und Einschließung. Eine Rückblende zeigt einen als „toten Punkt“ bezeichneten kleinen, flachen Teich: In dieses Gewässer stieg einst der lebensmüde Onkel der Protagonistin, ungeachtet dessen, dass es für den Selbstmord durch Ertrinken so denkbar ungeeignet ist. Und Agnes’ Zufallsbekanntschaft Bradwen verdient nach abgebrochenem Studium bezeichnenderweise sein Geld mit der Kartografierung des umliegenden Gebiets. Auf der „Ordnance Survey Explorer Map“ werden die gangbaren Wanderwege ebenso sichtbar wie die Routen, die die stetig schwächer werdende Protagonistin nicht länger bewältigen kann.
Man ahnt es schon: Gaston Bachelards Theorie der „Topo-Philie“ mag nicht müde werden, die anheimelnde Glückseligkeit dessen zu preisen, der sich „in seinen Winkel zurückzieht“, bei Bakker kommt auch – und vor allem – eine umgekehrte Logik zum Tragen. Seine topologische Metaphorik ist auffällig, dabei aber niemals aufdringlich. Davor bewahrt ihn schon der reduktionistische Stil, die überwiegend sparsame und bewundernswert klare Sprache, die die kurzen Kapitel kennzeichnet. Überhaupt erscheint die ‚Indienstnahme des Raumes‘ als ein indirektes Sprechen zugleich wie ein dankenswerter Verzicht auf somatische Semantiken konventioneller Metaphorisierung von Krankheit, deren – auch moralische – Problematik bloßzulegen Susan Sontag einst bemüht war.
Dass Literatur sich mit einer der Krankheit angemessenen Sprache im Allgemeinen dermaßen schwer tut, hat Virginia Woolf einmal damit erklärt, dass es des Mutes eines Löwenbändigers und eines stabilen Weltbildes bedürfte, wollte man sich dem Thema Krankheit stellen, ohne dabei auf die Abwege des Mystizismus oder eines verzückten Transzendentalismus zu geraten. In Bakkers Roman steht Emily Dickinson für diese Abwege. Mit Dickinson – über die die Protagonistin promoviert – wird ein Authentizitätsdiskurs eröffnet, in dessen Rahmen die harte und unmittelbare Realität körperlichen Verfalls einer bloßen Koketterie mit der Hinfälligkeit entgegensteht. Dickinson, das ist eine, die „nie von einer Biene gestochen“ wurde und die hier „hüstelnd und seufzend“ für einen eitlen und hohlen Ästhetizismus einzustehen hat.
Dem Roman selbst gelingt es nichtsdestoweniger, sich jenseits dieses antagonistischen Schemas zu bewegen. Die lebensbedrohende Krankheit gewinnt Kontur einerseits als genuin körperliches Phänomen. Sie tritt vor dem Hintergrund schweißtreibender Gartenarbeit und strapaziöser Bergaufstiege in Gestalt einer schwindenden Vitalität schier greifbar hervor. Andererseits eröffnet die Krankheit als Produzentin dissoziativer Störungen auch den Zugang zu weit realitätsferneren Sphären: So fristet die verstorbene Vormieterin auf dem Grundstück ein ätherisch-geisterhaftes Dasein als allgegenwärtige Geruchshalluzination. Überdies gelingt es dem Roman, das Motiv der Versehrtheit auch in weniger existenzieller Tonart zu variieren, wenn etwa gerade die Aufzeichnungen zur vergeistigten Lyrik Dickinsons dem zurückgelassenen Ehemann auf den Fuß fallen. Er muss sich humpelnd durch den weiteren Handlungsverlauf schleppen.
Auf die von Woolf beschriebenen Abwege gerät der Roman nur ganz vereinzelt. Dann etwa, wenn das überlaute Ticken der Küchenuhr als bedeutungsschwangeres vanitas-Symbol bemüht wird. Überwiegend jedoch wird in der besonnenen Zurückgenommenheit des Erzählens das aufrichtige Bemühen um eine Sprache erkennbar, der es gelingen könnte, die Erfahrung der Krankheit zu kommunizieren; selbst dort noch, wo sie wie bei Hoffmann oder eben bei Bakker ihre isolierende, vereinzelnde Wirkung entfaltet.
Überhaupt ist „Der Umweg“ ein Roman über das Übersetzen, in mehr als einer Hinsicht. Als Translatologin befasst sich die Protagonistin mit der adäquaten Übertragung der amerikanischen Gedichte Dickinsons ins Niederländische. Die eigentliche Erzählhandlung setzt sich mit dem ‚Über-Setzen‘ ins anglophone Ausland in Gang, wo unter dem Einfluss starker Schmerzmittel die Kommunikation in englischer Sprache zunehmend misslingt. Und immer wieder veranstaltet der Text ein Perspektivspiel, das im Medium des Blickes die grundsätzliche Fremdheit des Gegenübers zeitweilig zu überwinden sucht: „Das Tier blickte sie an, sie fragte sich, ob es sie wirklich sah, ob ein Dachs Augen als Augen erkennt.“
Sieht der Hund sie als seinesgleichen und das Eichhörnchen sie als Eichhörnchen? Die Gans, deren vieldeutiger Blick auch dem Betrachter des Buchumschlags begegnet, wird in Gegenwart der Leiche der Vormieterin zum „sensationslüsternen Gaffer“ – an einer angenehm unverklärenden Imagination der Tierperspektive hatte Bakker sich bereits in „Komische Vögel. Tiertagebuch“ (2009, dt. 2012) versucht. Und auch der verschränkte Blick des schielenden Bradwen verheißt ein geheimnisvolles ‚Dahinter‘, dessen Erkundung umso reizvoller wirkt, als desto unzugänglicher es sich darstellt.
In gewisser Hinsicht sind diese Perspektivspiele vielleicht die Antwort, die der Roman auf das Sujet der krankheitsbedingten Regression gibt. Es geht in diesem lesenswerten Buch nicht eigentlich um die Befreiung von hemmenden Konventionen und gesellschaftlichen Zwängen, die sich mit dem absehbaren Tod verbindet, wie es der Suhrkamp’sche Klappentext nahelegt. Vielmehr folgt der Text einem – auch poetologischen – Prinzip der Grenzüberschreitung und der Perspektivverschiebung. Er gesteht dem imaginationsgeleiteten Spiel der Blicke noch in der Ausweglosigkeit einen Raum zu. In Hoffmanns Erzählung besitzt der todkranke Protagonist, der seinen unvermindert lebenshungrigen Blick hinunter auf den Gendarmenmarkt schweifen lässt, ein Alter Ego: ein blinder Bettler im Markttreiben, der seinen Kopf stets in die Höhe gerichtet hält. Von dieser elendigen Figur heißt es, in der „Stellung [ihres] Hauptes“ scheine „ein fortwährendes Streben zu liegen, etwas in der Nacht, die den Blinden umschließt, zu erschauen.“ Eine solche blickdurchdrungene Nacht evoziert auch Gerbrand Bakkers Roman. Und es ist vor allem der klaren Schönheit und Präzision seiner Sprache zu verdanken, dass man ihm als Leser bereitwillig in diese Nacht nachfolgt.
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