Theodor Fontanes tausend Finessen

Über Hans-Peter Fischers Werk zu „Irrungen, Wirrungen“

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Studie ist viermal so umfangreich wie der Roman, den sie bespricht: Theodor Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ von 1887. Sie ist, das sei gleich gesagt, für den Kenner dieses in Berlin spielenden Romans eine lohnende Lektüre. Freilich sollte es ein sehr guter Kenner sein, denn Hans-Peter Fischer zitiert, ohne mit Seitenzahlen zu belegen. Ähnlich unklar verhält er sich, wenn er mehrfach über den „vielzitierten Schlusssatz“ des Romans spricht, ohne diesen Satz zu nennen.

Fischer deckt eine unglaubliche Fülle von Anspielungen auf. Beflügelt hat ihn diese Äußerung Fontanes in einem Brief vom 14. Juli 1887: „[W]er hat jetzt Lust und Fähigkeit, auf die hundert und, ich kann dreist sagen, auf die tausend Finessen zu achten, die ich dieser von mir besonders geliebten Arbeit mit auf den Lebensweg gegeben habe.“ Diese Anspielungen beziehen sich zum einen auf die sozialen Verhältnisse: auf den brutalen „Arbeitstakt“ (wie Fischer sagt), unter dem Lene, die Kunststickerin, steht und den ihr adeliger Freund Botho – drei Stunden Arbeit am Tag hat er, mehr nicht, betont Fischer – gar nicht wahrnimmt; auf die „religiösen Seilschaften“, die es dem Sektenführer Gideon gestatten, eine qualifizierten Job zu finden; auf das Netzwerk von Familienclan und Freunden (es ist ein viel grausameres und komplizierteres Netzwerk, als die meisten Leser meinen), das Botho von Lene weg- und zu der als Ehefrau vorgesehenen Käthe hinzieht. Das Auftreten des antimilitärisch eingestellten Schotten hat einen „homosexuellen Touch“.

Zum anderen geht es um Anspielungen auf menschlich-individuelle Züge. „Gehorsam statt Eigenständigkeit“ sei Bothos Devise; anders dagegen Lene in ihrer Resolutheit, die sich in ihrer späteren Wohnungswahl zeige. Fontanes Angabe über Käthe: „Sie lebte so gern“ ergänzt und präzisiert Fischer so: „ohne Kindergeschrei“. Er bringt hier Käthes knapp erwähnte Schwester zur Sprache – hat je ein Interpret auf diese Schwesternschaft geachtet? Überhaupt machen Fischers Aufklärungen sichtbar, wie stark konturiert bei Fontane auch die letzten Nebenfiguren sind. In den Figuren Pompadour, einer Russin, und Frau Salinger erkennt Fischer Fontanes Auseinandersetzung mit dem Ostjudentum. Immer wieder stellt Fischer auch Fragen: Warum ist Gideon in die Fremde gegangen? (Wegen einer „lästigen Familie“?) Ist Lene auch eine Intrigantin? (Sie kann doch vorzüglich segeln, laut „Hankel“-Kapitel. Wieso musste sie von Botho gerettet werden?)

Weitere große Anspielungsbereiche sind die Märchen. Fischer nennt mehr als ein Dutzend Grimm’scher und Andersen’scher Märchen, die sich in „Irrungen, Wirrungen“ abbilden. Parallelen zu Andersens „Kleiner Meerjungfrau“ sind für Fischer ein Anlass, die Figur Lene ausführlich als Melusine zu deuten und bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit Fontanes Fragment „Oceane von Parceval“ anzuführen. Man erfährt auch viel über Fontanes ‚stockendes Erzählen‘: Am Morgen nach der gemeinsamen Nacht liegt interessanterweise Nebel, und auf Bothos Fahrt zum Friedhof geschieht „der erste Verkehrsstau in der Literatur“. Natürlich haben wir nur sehr kleine Ausschnitte aus Fischers Beobachtungen genannt.

Wie gelingt Hans-Peter Fischer all dieses Enthüllen, Präzisieren, Aufklären? Er abstrahiert nicht, dekonstruiert nicht, er folgt nicht modernen oder postmodernen Literaturtheorien. Vielmehr ist es zunächst einfach so, dass er genau liest, sich mit Sensibilität Fontanes Formulierungen öffnet. Ferner ist er ein Kenner von Fontanes gesamtem Werk und bezieht aus geeigneten Seitenblicken viele Inspirationen. Wenn er etwa den Amerika-Fahrer Gideon beleuchtet, hat er auch Fontanes Amerika-Roman „Quitt“ vor Augen. Und schließlich ist ihm das Preußen der Kaiserzeit völlig vertraut mit seinen Mentalitäten, seinen Skandalen. Wer wie Fischer die anrüchigen Ehepläne von Bismarcks Sohn Herbert – um ein Beispiel zu nennen – und Fontanes Hellhörigkeit in solchen Dingen kennt, stutzt bei mancher Fontane’scher Wortwahl.

Die politisch-gesellschaftlichen und die rein menschlichen Aspekte fließen in Fischers Beobachtungen ineinander. „Irrungen, Wirrungen“ ist ein großer gesellschaftskritischer Roman und zugleich ein großer psychologischer Roman – Fischers Werk bekräftigt dies mit unerhört vielen Einzelheiten.

Allerdings muss man nicht allen Erklärungen Fischers zustimmen. In einigen Punkten hat sich, meine ich, Fischer verrannt. So in seiner spitzfindigen Analyse des Besuches Gideons bei Botho. Sie ist sehr lang (zehn Seiten!), ohne dass sie auf das Wesentliche eingeht: auf Gideons Begierde zu wissen, ob Lene etwa eine bezahlte Mätresse gewesen ist, und auf sein Glücksgefühl, als er aus Bothos Antwort das ‚nein‘ heraushört. Auch da, wo man Fischer nicht zustimmt, muss man seine Zugriffe und Schlussfolgerungen bewundern.

Dennoch ist an dem Buch zweierlei zu kritisieren. Zum einen die Nachlässigkeit, dass – wie erwähnt – zitiert wird ohne Seitenangabe. Wer „Irrungen, Wirrungen“ nur zweimal gelesen hat, kann daher vielen Argumentationen nicht genau folgen. Auch hat Fischers gelegentliche Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur den Mangel, dass er diese nicht ausführlich genug vorstellt. Zum anderen stört in dem Buch das, was ich seine Disziplinlosigkeit nennen möchte. Allzu spontan geht Fischer seinen Assoziationen nach, immer wieder wird man mitten in der Lektüre zur weiteren Information in ein anderes Kapitel verwiesen. Der lange Abschnitt „Ergänzungen“ am Ende des Buches ist ein Mixtum von Gedanken, das belegt, dass es der Autor einfach nicht fertig bringt, sein Werk souverän abzuschließen. Mangelnde Souveränität entdecke ich auch in der zuweilen sehr saloppen Ausdrucksweise. Fischer spricht von den „Spendierhosen der Adeligen“, er will „einer Codierung den Zahn“ ziehen, und er bemerkt, dass Lene sich allerlei Sehnsüchte „abschminkt“.

Aber vielleicht sollten wir dies nicht tadeln. Fischer will eben viele der Problematiken, die er aus Fontanes kunstvollem Erzählen scharfsinnig herausliest, als zeitlose Phänomene präsentieren, und dafür erscheint ihm eine moderne und ungezügelte Sprache angemessen.

Titelbild

Hans-Peter Fischer: „Okuli, da kommen sie“. Überraschende Einblicke in Theodor Fontanes Irrungen, Wirrungen.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2013.
406 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783826051135

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