Aisthesis der Klassengesellschaft

Pierre Bourdieus Studien zur kulturellen Praxis, neu gelesen

Von Heribert TommekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Tommek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Rede von „Eliten“, „prekären Verhältnissen“ und – seltener – von „Unterschichten“ ist uns heute geläufiger als noch vor ein paar Jahren. Dass die „Schere zwischen arm und reich“ immer weiter auseinander gehe, ist mittlerweile ein massenmedial verbreiteter Gemeinplatz. Auch der Gedanke, dass Bildungschancen in Deutschland nicht gleich verteilt, sondern klassenabhängig, das heißt vom kulturellen und ökonomischen Erbe der Familien abhängen, ist uns einigermaßen vertraut. Wie sich aber die Klassengesellschaft bis in die kleinsten und unscheinbarsten Bereiche der Kultur und der Welt des Geschmacks auswirkt, entzieht sich immer wieder dem Bewusstsein. Denn es gehört zum Wesen symbolischer Herrschaft, dass sie sich mit der Selbstverständlichkeit einer natürlichen Ordnung zeigt.

Entgegen der bis auf Kant zurückgehenden Vorstellung vom ,Desinteresse‘ des ästhetischen Urteils und individuellen Geschmacks hatte Pierre Bourdieu eine seinerzeit bahnbrechende Arbeit vorgelegt: In „Die feinen Unterschiede“ („La distinction“, 1979) zeigte er mittels aufwendiger Korrespondenzanalysen und deren soziologischer Interpretation, wie sehr das Geschmacksurteil in seiner ganzen Breite aisthetischer Differenzen ─ vom sinnlich-körperlichen bis zum abstrakt-formalen ästhetischen Urteil ─ sozial ungleich bedingt ist, je nach Feldposition, Umfang und Struktur des jeweils zur Verfügung stehenden ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals.

Die von Franz Schultheis und Stephan Egger im Konstanzer Universitätsverlag herausgegebene neue Ausgabe der „Schriften“ von Pierre Bourdieu hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Einzelstudien zugänglich zu machen, die den Hauptwerken vorausgingen. Dabei handelt es sich um viele, dem deutschen Leser nicht oder nur sehr schwer greifbare Studien, die häufig in der von Bourdieu mitbegründeten Zeitschrift „Actes de la recherche en sciences sociales“ zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren erschienen waren. Neben der Präsentation einiger Erstveröffentlichungen auf Deutsch wird so die Möglichkeit gegeben, die Genese und die Komplexität der zentralen Werke Bourdieus im Detail neu zu studieren. Werke, die mittlerweile zu den ,Klassikern‘ der Kultursoziologie gehören – wie „Die feinen Unterschiede“ oder „Die Regeln der Kunst“ ([frz. 1992] 1999) – werden so wieder in ihrer prozessualen Entwicklung lesbar. Etablierte Kategorien wie „Distinktion“, „Feld“, „Habitus“, die mit ihrer Verbreitung im allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs als Analyseinstrumente stumpf zu werden drohen, erhalten durch die (Re-)Lektüre der Einzelstudien ihre konkreten Entstehungskontexte und ihre analytische Schärfe und Komplexität wieder.

Dass der Kultursoziologie ein zentraler Stellenwert im Werk Bourdieus zukommt, wird bereits daran ersichtlich, dass innerhalb der „Schriften“-Ausgabe die „Schriften zur Kultursoziologie“ fünf Bände umfassen: „Sprache“ (Bd. 9), „Bildung“ (Bd. 10), „Wissenschaft“ (Bd. 11), „Kunst und Kultur“ (Bd. 12) und „Religion“ (Bd. 13). Der vorliegende Band bildet wiederum den dritten und letzten Teilband zum Themenbereich „Kunst und Kultur“. Ihm gehen die Teilbände „Zur Ökonomie symbolischer Güter“ und „Kunst und künstlerisches Feld“ voraus.

Zentraler Gegenstand des vorliegenden Bandes zu „Kultur und kulturelle Praxis“ ist die „Verlängerung der Klassengesellschaft im ‚Geschmack‘“, wie die Herausgeber in ihrem instruktiven Nachwort betonen. Der Band umfasst Studien zu drei Themenbereichen: 1. Schriften zur sozialen Funktion der Fotografie, die ursprünglich 1965 veröffentlicht worden sind und zum Teil in Bourdieu et al.: „Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie“ (1981) vorliegen. 2. Schriften zur Soziologie des ästhetischen Urteils und Geschmacks. Hierbei handelt es sich um Vor- und Teilstudien zu „Die feinen Unterschiede“ (1987). 3. schließlich Schriften zur Soziologie des Sports. Erstveröffentlichungen in deutscher Sprache sind die Studien „Der Bauer und die Photographie“ und „Der Modeschöpfer und seine Marke. Beitrag zu einer Theorie der Magie“. Ergänzt wird der Band durch ein instruktives Nachwort der Herausgeber und einem hervorragenden Beitrag von Gunter Gebauer zu Bourdieus „Kultursoziologie als Morphologie der bürgerlichen Gesellschaft“. Hier werden sehr kenntnisreich und prononciert die Kernelemente der Studien herausstellt und synthetisiert.

Für die frühen soziologischen Studien ist kennzeichnend, dass Bourdieu anhand von unscheinbaren kulturellen Praktiken grundlegende soziale Strukturen und deren Wandel aufzeigte. Um sich von ,scholastischen‘, etwa rein strukturalistischen, Ansätzen abzugrenzen, stellte er dabei stets die Frage nach den konkreten kulturellen Gebrauchsweisen. Indem er diese in ihrer praktischen Logik und relationalen Bedeutung verstand, strebte er stets danach, sowohl den individuellen Praktiken als auch dem feldstrukturellen Raum, in denen die Bedingung ihrer Möglichkeit liegt, zu rekonstruieren. So zeigen zum Beispiel seine Studien zu den unterschiedlichen Gebrauchsweisen der Fotografie in den frühen 1960er-Jahren, dass hier weniger der ökonomische Faktor als vielmehr die Opposition zwischen den in der Stadt mit der Fotografie verbundenen ästhetischen Einstellungen und den von ihr auf dem Land ausgeübten rituellen Funktionen maßgeblich ist. Die unterschiedlichen Beziehungen zum fotografischen „Bild“ (ästhetischer Geschmack versus Dokument zur Bewahrung des Familienerbes) gehorchen also der Logik sozialer Zugehörigkeit. Über scheinbar ›natürliche‹ Geschmacksunterschiede („das ist nichts für mich“) kommt die Vergewisserung sozialer Identitäten und Abgrenzungen zum Ausdruck. Durch die zunehmende Verbreitung der Technik haftete der Fotografie bei den oberen Klassen der „Verdacht des Vulgären“ an, während die aufstrebende Mittelklasse über sie Modernität und künstlerische Effekte zu realisieren versuchte.

Die Schriften zur Soziologie des ästhetischen Geschmacks stellen das Zentrum des Bandes dar. Besondere Aufmerksamkeit verdient hier die Studie „Anatomie des Geschmacks“, die bereits den analytischen Kern der „Feinen Unterschiede“ bildete. Das jeweilige Verhältnis zur Kultur wird hier wieder in das Beziehungsgeflecht der Lebensstile einfügt. Die soziale „Anatomie des Geschmacks“ ist ein System von Regeln und Verhaltensweisen, denen zugleich unterschiedliche, hierarchisierte Legitimationsgrade zugeordnet sind. In Abwandlung der These von Marx und Engels, dass die herrschenden Gedanken einer Zeit die Gedanken der herrschenden Klasse seien, sind es die legitimen Kunstwerke mit „universalem Anspruch“, die am stärksten über das Recht zu klassifizieren und ,Klasse‘ zu verleihen verfügen. So kommt in den ästhetischen Dispositionen und Urteilen zugleich das Ethos eines Lebensstils zum Ausdruck. „Geschmack“ rechtfertigt also die soziale Existenz. Umgekehrt ist die soziale Stellung Grundlage für das ästhetische Urteil. Es gilt das allgemeine Korrespondenzverhältnis: je höher die soziale Stellung, je mehr eine „Distanz zur Welt“ eingenommen werden kann, desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit zu ästhetischen Einstellungen, während die ethischen Funktionen des Dargestellten und dessen ,naive‘, emotional-körperliche Rezeption abgewertet werden.

Auch die Studien zum Feld der Modeschöpfer und ihrer Marken in Paris aus den 1970er-Jahren sind ein markantes Beispiel dafür, wie sehr es Bourdieu verstand, an einem konkreten Gegenstand eine allgemeine Logik des ästhetischen Urteils als soziale Distinktionsordnung aufzeigen. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Verwandlungskraft, auf der sozialen Magie, die gesellschaftliche Ungleichheit eine ästhetische Gestalt in den Dingen der Modewelt annehmen lässt. So steht der ,klassischen Eleganz‘ der etablierten Modemacher am Rive Droite in Paris die ,jugendliche Exotik‘ von neuen Modeschöpfern am Rive Gauche entgegen. In dieser spezifischen Opposition des Modegeschmacks spiegelt sich die allgemeine Opposition zwischen den „dominant Herrschenden“ (den Besitzbürgern), die das Recht der angehäuften Zeit (Tradition) auf ihrer Seite haben, und den „beherrschten Herrschenden“ (den Bildungsbürgern), die über ,avantgardistische Strategien‘ das Monopol auf die Definition des herrschenden Modegeschmacks in Frage stellen.

Eine andere, radikale ,Verwandlung‘ sozialer Strukturen in ästhetische Formen zeigen Bourdieus Skizzen zu einer Soziologie des Sports auf. Denn die Sportarten lassen sich nach ihrem Verhältnis zum Körper ordnen, worin sich die soziale Klassifikationen verdoppeln: So sind diejenigen Sportarten, die einen direkten Körperkontakt voraussetzen (wie Fußball oder Rugby) denjenigen gegenübergestellt, die jeden Körperkontakt meiden (wie vor allem beim Golf-Sport) oder nur einen über den Ball vermittelten Kontakt zulassen (wie zum Beispiel Tennis). Wie im ästhetischen Urteil der Distanz und in der sozialen Magie der Gegenstände der Mode lagert sich auch hier das Gedächtnis sozialer Strukturen als verinnerlichte Dispositionen zum Urteilen, Handeln und unbewussten Streben im Körper ab. In den unterschiedlichen „Gebrauchsweisen des Körpers“, die das Feld der Sportarten strukturieren, zeigt sich mit dem Kampf um die legitime Bestimmung des Körperbildes der unmittelbarste Ausdruck der Auseinandersetzungen um die Rechtfertigung der jeweiligen sozialen Existenz.

So führt die (Re-)Lektüre der Einzelstudien zur kulturellen Praxis vor Augen, wie tief Bourdieu in die Mikrostruktur der sich häufig weniger direkt ökonomisch als vielmehr indirekt in ihrer ästhetischen Verdoppelung zeigenden Klassenstruktur gedrungen ist. Wenn dabei auch Redundanzen und Wiederverwertungen von Detailstudien auftreten, so überwiegt doch das beindruckende Zeugnis des hohen analytischen Niveaus der Untersuchung kultureller Beziehungsgeflechte, die sowohl den ungleichen Bedingungen und individuellen Formen als auch der einheitlichen Logik kultureller Praktiken gerecht wird. An diesem analytischen Niveau sollten sich auch die heutigen Kulturwissenschaften, wollen sie nicht zur Aisthesis der Klassengesellschaft schweigen, noch messen lassen.

Titelbild

Pierre Bourdieu: Kunst und Kultur. Kultur und kulturelle Praxis Schriften zur Kultursoziologie 4.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2013.
685 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-13: 9783867643252

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