Zur Vergangenheitsbewältigung der „Karteigenossen“

Malte Herwig erzählt die Geschichte der Flakhelfer neu und lässt dabei doch viele Fragen offen

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es handelt sich gewissermaßen um eine „Familiengeschichte“, die der Journalist und Handke-Biograf Malte Herwig mit seinem Buch über die „Flakhelfer“ vorlegt. Allerdings ist es weniger die seiner eigenen noch die einer anderen Familie als vielmehr „unser aller Familiengeschichte, die wir in der alten Bundesrepublik aufgewachsen sind“. Herwigs Ausgangsbefund ist die maßgebliche Rolle, die die Generation der Flakhelfer für die Bundesrepublik der Nachkriegszeit – bis in die Gegenwart hinein – gespielt hat und immer noch spielt.

Im engeren Sinne gemeint sind damit die Jahrgänge der zwischen 1926 und 1929 Geborenen, die die Zeit der Weimarer Republik kaum mehr bewusst erlebten, dafür aber unter der NS-Diktatur aufwuchsen, mit Jungvolk und Hitlerjugend, für einen Kriegseinsatz aber meist noch zu jung blieben und stattdessen als Flakhelfer dienten. Die Jahre ihres Erwachsenwerdens fielen mit dem Kriegsende und dem Untergang der Naziherrschaft, zugleich auch mit dem Aufbau Nachkriegsdeutschlands zusammen. Zahlreiche Angehörige dieser Generation wurden, wie sich zumeist erst in den letzten Jahren herausstellte, in der zentralen Mitgliederkartei der NSDAP als Parteimitglieder geführt, so beispielsweise Peter Boenisch, Tankred Dorst, Horst Ehmke, Erhard Eppler, Iring Fetscher, Hans-Dietrich Genscher, Dieter Hildebrandt, Wolfgang Iser, Walter Jens, Siegfried Lenz, Erich Loest, Hermann Lübbe, Niklas Luhmann und Martin Walser.

Der Autor selbst hat einige ihrer Namen in der vom Bundesarchiv verwahrten Kartei entdeckt und damit eine Diskussion ausgelöst, die nicht zuletzt mit der Reaktion vieler Betroffener auf diese Entdeckungen zusammenhängt. Denn im Grunde genommen hatten die Angehörigen der Flakhelfer-Generation eine eigene Verführung durch die Nationalsozialisten während ihrer Jugendjahre zu keiner Zeit regelrecht abgestritten. Dennoch – und an diesem Punkt setzt Herwigs Buch an – wollten sich viele der Genannten an einen eigenen Aufnahmeantrag nicht mehr erinnern, stritten seine Möglichkeit rundweg ab oder verwiesen auf automatische Mitgliederübernahmen etwa aus der Hitlerjugend in die Hitlerpartei.

Dies ist die eine Geschichte, um die es Herwig geht: Er geht am Beispiel der Flakhelfer den Windungen und Verwirrungen der Erinnerung nach, soweit er sie auf Grundlage von Akten und Interviews rekonstruieren konnte. Gegen die Argumente der Betroffenen führt Herwig den Einwand, dass es für automatische oder gar zwangsweise Parteiaufnahmen ganzer Jahrgänge oder HJ-Gruppen keinerlei Belege gebe. Selbiges gilt etwa auch für gefälschte Unterschriften auf Aufnahmebögen. Vielmehr spricht viel dafür, dass die NSDAP, die zuletzt zwar verstärkt Mitglieder aus der Hitlerjugend übernahm (und hierfür gar Mindestquoten bestimmte), zugleich doch großen Wert auf die Auslese ihrer Mitglieder legte und eine klare Willensentscheidung in jedem Fall zur Voraussetzung einer Aufnahme machte.

Selbst 1945 war nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Deutschen Mitglieder der Nazipartei, insgesamt etwa 8,5 Millionen Menschen. Die ideologische Durchdringung des Volkes und insbesondere der Jugend war insofern nicht gleichbedeutend mit ihrer Vereinnahmung als Mitglieder für die Partei. Nach dem Krieg spielte die bloße Parteimitgliedschaft im Rahmen der Entnazifizierung dann eine untergeordnete Rolle. Sie wurde weder in der Bundesrepublik noch in der DDR zu einem prinzipiellen Karrierehindernis. Verdrehungen und Stilisierungen in der Erinnerung an die eigene Parteivergangenheit nahmen aber bereits auf den Fragebögen nach 1945 ihren Anfang, wie Herwig zeigt – man konnte sich an einen Aufnahmeantrag nicht erinnern, verwies auf gruppenweise Übernahmen von HJ- oder NSKK-Einheiten in die Partei, gleichsam als Geschenk an Hitler, oder wies darauf hin, dass man in der Wehrmacht gewesen sei oder einen Mitgliedsausweis nie erhalten habe und insofern pro forma nicht Parteigenosse gewesen sein könne (obwohl im Falle von Soldaten der Wehrmacht eine NSDAP-Mitgliedschaft lediglich „ruhte“). Die Narrative dieser (fehlenden) Erinnerung wurzeln bereits in dieser Zeit.

Herwigs andere Geschichte betrifft das zugrunde liegende Material: die in München geführte Mitgliederkartei der NSDAP mit ihren mehr als zehn Millionen Einträgen. Noch kurz vor Kriegsende von der SS eilig zur Vernichtung bestimmt, ist ihr Erhalt der Obstruktion eines Papiermühlenbesitzers zu danken sowie der amerikanischen Besatzungsmacht, welche Dokumente der Nazi-Herrschaft sicherstellte und archivierte. Diese Akten kamen in das von den Amerikanern errichtete Berlin Document Center und wurden erst im Jahr 1994 an das Bundesarchiv überführt.

Herwig schildert diese Zusammenhänge, wie etwa die Amerikaner dafür Sorge trugen, dass die Karteikarten prominenter westdeutscher Politiker aus den Beständen des Document Center ausgesondert wurden, um unliebsame Enthüllungen über den Bündnispartner zu verhindern. Oder wie sie es sich, wenn auch nicht klaglos, gefallen ließen, dass ihre westdeutschen Alliierten über Jahrzehnte hinweg alles dafür taten, eine Rückgabe der Bestände zu verzögern und die Schuld dafür – genauso wie für die sehr restriktive Bewilligung von Einsichtsersuchen – auch noch der amerikanischen Seite zuschoben. Dass etwa in jedem Bundeskabinett bis hin zu Helmut Kohl ehemalige Mitglieder der NSDAP vertreten waren, von den Parlamentariern im Bundestag und in den Landtagen ganz zu schweigen, konnte somit erst nach 1994 auf den Tisch kommen. Gleiches gilt auch im Falle der DDR, wo sich alte Parteigenossen im Schatten eines rhetorischen Antifaschismus nicht nur in den Reihen der evangelischen Kirche, sondern auch im Zentralkomitee der SED fanden – was die Stasi wiederum nicht hinderte, soweit es auf Grundlage eigener Akten möglich war, Erkenntnisse über die NSDAP-Mitgliedschaften westdeutscher Politiker im eigenen Interesse zu nutzen.

Was die Bundesrepublik betrifft, so bestand eine Art von parteiübergreifendem Konsens darüber, eine weitere Entnazifizierung des politischen Personals zu vermeiden. Dennoch – und trotz ihrer nationalsozialistischen Vorbelastung – wurde die Bundesrepublik zu einer demokratischen Erfolgsgeschichte. Wie war das möglich? Und spezifischer mit Blick auf die vormaligen Flakhelfer: „Wie konnten aus verblendeten Jugendlichen vorbildliche Demokraten werden?“ Diese zweifellos wichtigen Fragen werden durch die Tatsache, dass viele eben dieser Flakhelfer heute so einhellig bestreiten, sich an einen Aufnahmeantrag zur NSDAP zu erinnern, nur noch unterstrichen. Aber genügt es, hier auf das Fehlen von Gegenbeweisen zu verweisen, um diesen Erinnerungsmangel als Verdrängung zu interpretieren? Zumal eine einstige NSDAP-Mitgliedschaft im Alter von 17 oder 18 Jahren aus heutiger Sicht kaum mehr moralisch zurechenbar erscheint. Herwig umschreitet seine eigentliche Kernfrage leider mehr, als dass er sie beantwortet, denn die Wege einer Genese eines freiheitlich-demokratischen Geistes im zunächst nationalsozialistisch geprägten Bewusstsein der Flakhelfer nimmt er kaum in den Blick. Zugleich hat Herwig zweifellos Recht, wenn er bemerkt: „Die Bedeutung der aufklärerischen Selbstemanzipation einer verführten Generation erkennt man […] erst, wenn man ihren prekären Ausgangspunkt nicht mehr leugnet.“

Man kann allerdings daran zweifeln, ob dieser prekäre Ausgangspunkt, im Falle der einzelnen Flakhelfer – Parteimitgliedschaft oder nicht – genauso wie für die Bundesrepublik als Ganze, tatsächlich infrage steht. Dass die Grenze zwischen guten Bundesbürgern und bösen Nationalsozialisten so eindeutig nicht zu ziehen ist, dieses Resultat kann bei Lichte betrachtet auch niemanden überraschen.

Von besonderem Interesse sind die beiden abschließenden Kapitel des Buches, in denen Herwig ausführlich auf Günter Grass – der zwar nicht Mitglied der NSDAP war, aber doch der Waffen-SS, wie er selbst bekanntlich im Jahr 2006 einräumte – und Martin Walser zu sprechen kommt. Beide Autoren haben ihre jugendliche Berührung mit dem Nationalsozialismus nie verleugnet, sondern zum Ausgangspunkt einer literarischen Erforschung des eigenen wie des Gewissens der deutschen Nachkriegsgesellschaft gemacht. Herwig liest ihre Werke – bei Grass etwa die „Blechtrommel“ und „Im Krebsgang“ – als Formen erinnernden Umgangs mit der eigenen Verführung. „Tatsächlich hat Grass, auch wenn er andere kritisierte, immer von sich geschrieben. […] Sein Werk wusste schon immer von der eigenen Schande.“ Auch bei Walser erkennt Herwig diese Form einer Vergangenheitsbewältigung in Sprache, in der der selbst betroffene Autor gewissermaßen einen literarisierenden Mittelweg zwischen Verdrängung und Geständnis beschreitet.

Trotz dieser durchaus überzeugenden Rückgriffe auf die Werke von Grass und Walser hinterlässt Herwigs Buch beim Leser jedoch einen gemischten Eindruck. Dass das heutige Urteil, aus einer Distanz von nahezu 70 Jahren und auf Grundlage eines moralischen Wissens, das sich nicht zuletzt dem Glück des Nachgeborenen verdankt, gar nicht erst in Versuchung geführt worden zu sein, unangemessen rigoros zu sein neigt, darauf macht der Autor mit Recht aufmerksam. Demgegenüber verdienten Phänomene der Verdrängung und Umwertung tatsächlich größere Aufmerksamkeit.

Auch dass das Wirken der Flakhelfer nach 1945 gerade angesichts ihrer biografischen Voraussetzungen umso größere Anerkennung verdiene, trifft sicherlich zu. Doch trägt das Buch gerade hier wenig zur Antwort auf seine eigene Frage bei. Herwig nähert sich ihr in der Zusammenführung der Erträge der Forschung und eigener Studien vielmehr allein exemplarisch, vor allem im Falle von Grass und Walser. Einerseits spricht er sich ausdrücklich gegen eine „Kultur des Denunziatorischen“ aus. Andererseits beharrt er doch mit einiger Intensität auf den in seinen Augen unerklärlichen Erinnerungslücken bei denen, die zwar eine jugendliche Verführung durch die Nazis stets eingeräumt haben, aber von einer eigenen Parteimitgliedschaft heute nichts mehr wissen wollen. Und das bei einem Sachverhalt, dessen Bedeutung für die Fragestellung begrenzt ist.

Was trägt die Feststellung der formellen Parteimitgliedschaft Neues zum Wissen über die nationalsozialistische Verführung der Flakhelfer und deren Überwindung bei? Warum aber gerade diese vormals als Parteigenossen geführten Flakhelfer zu guten Demokraten werden konnten, was sie als soziologische Gruppe ausmachte – etwa eine skeptisch-pragmatische Haltung oder eine ideologische Resistenz –, darauf geht Herwig kaum ein. Womöglich vermag man diese Frage in der Masse individueller Schicksale auch nur exemplarisch zu klären. So wäre es allerdings interessant zu erfahren, inwiefern sich die von Herwig in den Blick genommene Gruppe von jenen Flakhelfern unterscheidet, die sich nicht in der Mitgliederkartei der NSDAP finden (abgesehen von Grass erwähnt Herwig nur einen, auf den das zutrifft: Joseph Ratzinger, den späteren Papst), beziehungsweise von solchen, die später nicht zu intellektuellen Größen der Bundesrepublik aufstiegen.

Im Gegensatz zu jener hektischen Debatte, die etwa nach Herwigs Enthüllung der mutmaßlichen NSDAP-Mitgliedschaft Hans Werner Henzes vor einigen Jahren aufbrandete, ist Herwig in seinem Umgang mit dem individuellen Schicksalen seiner Flakhelfer sehr gemessen und sehr vorsichtig. Gerade angesichts einer Debatte, in der bei rigorosen Urteilen Zwischentöne meistens zu kurz kommen, ist ihm dies sehr zugute zu halten. Zudem leistet er dadurch auch einen wichtigen Beitrag dazu, die Erinnerung an den Nationalsozialismus nicht als bloß ritualisiertes, symbolisches gesamtgesellschaftliches Handeln lebendig zu halten – und darin steht er wiederum ganz im Anschluss an Autoren wie Martin Walser und Günter Grass.

Titelbild

Malte Herwig: Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013.
315 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783421045560

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