Bürgerliche Schatztruhen

„Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler“: Peter Gay verteidigt die viktorianische Ära gegen ihre Verächter

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 18. März 1879 war kein guter Tag für Arthur Schnitzler. Sein Vater hatte den Schreibtisch des Sohnes durchsucht und dabei in einer verschlossenen Lade ein verdächtiges rotes Büchlein gefunden. Der Lektüre der ersten erotischen Abenteuer des damals noch 16-Jährigen sollte eine „furchtbare Strafpredigt“ Dr. Johann Schnitzlers folgen. Der renommierte Facharzt für Kehlkopfleiden malte seinem Sprössling die gesundheitlichen Gefahren seines Treibens in den düstersten Farben aus und ließ ihn einen medizinischen Wälzer über Syphilis durcharbeiten.

Diesen Vertrauensbruch verzieh der österreichische Dichter seinem Vater niemals, auch wenn er, wie Peter Gay betont, zeitlebens bei seinen erotischen Eskapaden von diesen Lektionen profitierte. Dem amerikanischen Historiker und Psychoanalytiker erweist sich die traumatische Episode in Schnitzlers Biografie als geeigneter Ausgangspunkt, um die „Innenansichten des 19. Jahrhunderts“ zu erhellen. In „Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler“ (auf Deutsch zuerst 2002) erforscht Gay die Mentalitäten der europäischen und amerikanischen Bourgeoisie: ihr Verhältnis zu Liebe und Sexualität, zu Familie und Privatheit, Angst und Gewalt, Arbeit und Wissenschaft, Spiritismus und Kunst – gestützt auf eine Vielzahl von Tagebüchern, Briefwechseln, Memoiren und natürlich auf seine fünfbändige Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts (1984-1998).

In neun materialreichen, unterhaltsam geschriebenen Kapiteln erzählt Gay „die Biographie einer Klasse, des Bürgertums, im langen neunzehnten Jahrhundert von 1815 bis 1914“, wobei ihm Schnitzler, „Inbegriff des Bürgers“, als Führer, manchmal auch als Kontrastfigur oder einfach nur als Aufhänger dient. Immer wieder sieht Gay seine These bestätigt, dass das viktorianische Zeitalter Opfer „verleumderischer Behauptungen“ wurde. So seien verheiratete Viktorianer gar nicht prüde gewesen, vielmehr war ihr Sexleben in der Regel erfreulich rege und lustvoll, glaubt Gay seinem Material entnehmen zu können; und natürlich hätte dazu auch das freimütige Gespräch gehört.

Gleich dreimal zitiert er als Beleg die Amerikanerin Lara Lyman, die um 1850 ihrem abwesenden Ehemann verheißungsvolle Briefe schickte: „Nächsten Samstag werde ich deine Schatztruhen plündern, das kann ich dir versichern!“ Sollte das wirklich repräsentativ sein, warum kam es dann um 1900 zur „Sexualreform“ und zum Feminismus? Für Gay jedenfalls fielen Historiker, wo immer sie das 19. Jahrhundert kritisierten, auf die Polemiken und Denunziationen zeitgenössischer Intellektueller herein. Zu ihnen ist natürlich auch Schnitzler zu zählen, der in seinen Werken das Bürgertum entlarvte, ihm aber zugleich als fleißiger Arzt und Dichter selbst angehörte.

So erfrischend Gays im Detail immer wieder überraschenden Neubewertungen des Bürgertums gegenüber einer zu Klischeebildern erstarrten Historiografie sind: Sein Urteil, dass die „viktorianische Ära ein bewundernswertes Jahrhundert war“ (im Gegensatz zu einem sich grundlos moralisch überlegen fühlenden 20. Jahrhundert), erscheint wenig überzeugend, wenn man etwa an die Millionen Opfer des europäischen Kolonialismus denkt. Kühn erscheint auch Gays Behauptung, dass die heile bürgerliche Welt keine Mitschuld am Ersten Weltkrieg trage – als ob etwa der notorische, von Schnitzler im „Leutnant Gustl“ karikierte und von Gay durchaus vermerkte bürgerliche Männlichkeits- und Ehrenkult um 1900 dabei nicht auch eine Rolle gespielt hätte.

Das eigentliche Problem von Gays Darstellung ist aber ihre rückwärtsgerichtete Perspektive, wonach das „lange“ 19. das „Jahrhundert Schnitzlers“ gewesen sein soll: Ist der von 1862 bis 1931 lebende Dichter nicht primär eine Jahrhundertwende-Gestalt, mithin also eine der von Umbrüchen in Wissenschaft, Technik und Kultur geprägten literarischen Moderne, mit der das 20. Jahrhundert anbrach? Wer sich für das „Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler“ interessiert, sollte daher besser zu Philipp Bloms „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914“ (2009) greifen.

Titelbild

Peter Gay: Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler. Innenansichten des 19. Jahrhunderts.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Ulrich Enderwitz, Monika Noll und Rolf Schubert.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
384 Seiten, 10,99 EUR.
ISBN-13: 9783596194575

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