Joseph Roth, ein Flaneur?

Zwei neue Ausgaben präsentieren ausgewählte Feuilletons von Joseph Roth

Von Max BeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Max Beck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Bezeichnung eines Schriftstellers als Flaneur ist längst kein Positivum mehr. Insbesondere gegenwartsfeuilletonistische Blödel-Titel wie „Er war ein Flaneur des Geistes“ („Die Welt“) haben den Begriff wenn nicht zum hohlen Nichts, so zum bestenfalls noch ideengeschichtlich interessanten Relikt der Blütezeit europäischer Großstädte entwürdigt. Die kaum zu überschauenden literaturwissenschaftlichen Kleinst- und Großarbeiten zum Thema versammeln sich zumeist um die Namen Poe, Baudelaire, Hessel und Benjamin. Zu Roth gibt es hingegen keine Aufsätze oder Monografien in deutscher Sprache, die den Begriff ,Flaneur‘ in Titel oder Untertitel tragen.

Ein Grund dafür mögen editionsgeschichtliche Besonderheiten sein. So wurden die Feuilletons Roths erst 1989/90 im Rahmen der von Klaus Westermann und Fritz Hackert besorgten sechsbändigen Werkausgabe in einem größeren Umfang zugänglich. Zuvor beschränkte sich die Beschäftigung mit Roth fast ausschließlich auf dessen Romane. Es liegt bis heute keine Ausgabe vor, welche alle Feuilletons kommentiert und kontextualisiert. So widmet sich die akademische Forschung erst allmählich der erschließenden Kommentierung. Der von Helmuth Nürnberger herausgegebene Band „Heimweh nach Prag“ versammelt die Arbeiten Roths für das „Prager Tagblatt“. Die einzelnen Texte sind vorbildlich kommentiert, sodass sich auch heute nicht mehr bekannte Zusammenhänge leicht erschließen. Der von Wiebke Porombka herausgegebene Band „Trübsal einer Straßenbahn“ hingegen verzichtet bedauerlicherweise auf eine Kommentierung und ist lediglich mit einem Nachwort der Herausgeberin versehen.

Dass Roth nur selten im Kontext der zeitgenössischen flânerie auftaucht, muss umso mehr verwundern, da er nicht nur Zeitgenosse von Autoren wie Walter Benjamin und Franz Hessel war, sondern sich ebenso in den Flaneur-Metropolen Paris und Berlin bewegte. Dieses Missverhältnis lässt sich exemplarisch an den Texten der vorliegenden Bände studieren. „Es ist eine große Vermessenheit, Städte beschreiben zu wollen“, heißt es etwa im Dezember 1924 in dem Artikel „Lemberg, die Stadt“, einem der wenigen Texte Roths, die eine Programmatik umreißen. „Ich könnte Häuser beschreiben, Straßenzüge, Plätze, Kirchen, Fassaden, Portale, Parkanlagen, Familien, Baustile, Einwohnergruppen, Behörden und Denkmäler. Das ergäbe ebenso wenig das Wesen einer Stadt, wie die Angabe einer bestimmten Zahl von Celsiusgraden die Temperatur eines Landstriches vorstellbar macht.“ Roth wendet sich gegen eine topografische Städtebeschreibung, die in mathematischer Weise das Bild einer Stadt fixiert. Für ihn handelt es sich bei der Stadt um ein zu ergründendes Verhältnis von Einheit und Vielheit, Offenbartem und Geheimem.

„Was ich sehe, ist der lächerlich unscheinbare Zug im Antlitz der Straße und des Tages“, notiert Roth 1921. „Jedes Pathos ist im Angesicht der mikroskopischen Ereignisse verfehlt, zwecklos verpufft.“ Der Fokus der Beobachtung liegt auf den nur scheinbar unwichtigen Dingen, die dem Flaneur in der Stadt begegnen. Das Durchstreifen der Großstadt lässt sich auch motorisiert gestalten, da manchmal „eine Stadtbahnreise lehrreicher“ ist „als eine Fahrt über Meere und Länder, und die Weitgereisten werden wissen, daß es im Grunde genügt, einen einzigen verborgenen Fliederbaum in einem verstaubten Großstadthof zu sehen, um die ganze tiefe Trauer aller verborgenen Fliederbäume der Welt zu verstehen.“

Dem Vielreisenden, der einst noch Tickets sammelte und dessen heutiges Pendant auf Jagd nach Bonusmeilen ist, verfügt über keinen emphatischen Begriff von Erfahrung, die sich sogar noch an einem verstaubten Fliederbaum machen ließe. An den kleinen, unscheinbaren Dingen lässt sich Geschichte erfahren und die Bewegung der Zeit erkennen: „Erinnerungen haben sich in Ritzen und Rillen festgekrallt. Verschollene Laute kauern in den Nischen.“ Walter Benjamin bringt das Programm 1929 in einer Rezension von Franz Hessels „Spazieren in Berlin“ auf den Punkt: Der so Umherschweifende ist einer, „der ins Vergangene statt ins Ferne reist.“

Anders als der Spaziergänger, dessen Gang ins Grüne oder um die Häuserblocks dazu dient ,zu entspannen‘ oder ,mal runterzukommen‘ und damit nur Kehrseite der Arbeit ist, ist die „Lektüre der Straße“ (Hessel) des Flaneurs frei von solch einem Zweck. So schimpft Roth auch über den notorischen Arbeitsfetischismus, den die Individuen rückwirkend noch rationalisieren: „Die These: ,Der Mensch muß arbeiten‘ ist eine mitteleuropäische, geradezu preußische Erfindung. […] Wir vergaßen, daß Adam erst arbeitete, als er aus dem Paradies der Faulheit vertrieben war. Mit der einem Mitteleuropäer angeborenen Fähigkeit, das Unnatürliche auf dem Umweg über die Logik zur Selbstverständlichkeit zu machen und dem Leider-Notwendigen den Stempel des Gottseidank-Nützlichen aufzudrücken, zerplagten wir die Jahrhunderte unserer Entwicklung.“

Anknüpfend an den hinter der Kaffeehausscheibe sitzenden Erzähler in Edgar Allan Poes oft als Urtext der flânerie bezeichneten „Man of the Crowd“ und den durch die Passagen gehenden Flaneur bei Benjamin, lassen sich die Betrachtungen Roths zu Fenstern und Schaufenstern lesen. So heißt es über Fenster, diese seien „Offenbarungen fremder Leben und Tode, geschwätzige Nachbarschaft, Plaudertanten“. Diese ,Offenbarung’ der Fenster gilt insbesondere für Schaufenster, denen sich auch Benjamin widmete. In seiner „Philosophie des Schaufensters“ (1923) beschreibt Roth die Wirkung der Auslagen durch die Scheibe auf den Betrachter: „Alle diese Dinge sind mir, dem Betrachter, räumlich nahe, mein Blick greift nach ihnen, meine Netzhaut verzehrt sie, zehnmal, tausendmal, ich habe sozusagen ein Wiederkäuerauge.“

Auf den ,ersten Blick‘ scheinen die Auslagen dem Betrachter nahe zu sein. Zwischen Beobachter und Beobachtetem befindet sich allerdings die Scheibe, die eine scheinbar unüberwindbare Hürde ist. Roth stellt Überlegungen über den Doppelsinn der Sicherheit der Scheibe an, die – wenn man nur will – leicht zu durchbrechen ist: „Dünn und spröde ist eine gläserne Scheibe, und ein Faustschlag könnte sie zerschmettern. Dennoch lähmt sie täglich zehntausend gierige Fäuste und verwahrt die Güter, die man ihr anvertraut, besser als eine Mauer.“ Die Scheibe trennt nicht nur Ware und Käufer ist, sondern ebenso Menschen. Eine sichtbare Nähe, die aber doch durch das mehr oder weniger unsichtbare Glas getrennt ist: „Denn zu den Materien, die diese Welt beherrschen, gehört das Glas, das die Menschen scheidet als solche, die vor, und andere, die hinter dem Fenster leben.“

Dass die Roth’schen Feuilletons bislang zu wenig beachtet wurden und zu lange im Schatten der großen Romane wie „Hiob“ und „Radetzkymarsch“ standen, gehört mittlerweile zum Allgemeingut literaturwissenschaftlicher Klage. Die inhaltlichen Parallelen zur zeitgenössischen flânerie sind dabei nahezu unbekannt geblieben. Zum partiellen Studium dieses Zusammenhangs eignen sich die beiden Bände ausgezeichnet. Wünschenswert wäre jedoch auf längere Sicht eine Gesamtausgabe der Feuilletons Roths, die eine fundierte Kommentierung aller Texte vornimmt.

Titelbild

Joseph Roth: Heimweh nach Prag. Feuilletons - Glossen - Reportagen für das »Prager Tagblatt«.
Herausgegeben von Helmuth Nürnberger.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
640 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311688

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Titelbild

Joseph Roth: Trübsal einer Straßenbahn. Stadtfeuilletons.
Herausgegeben von Wiebke Porombka.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2012.
267 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783990270035

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