Alles Quatsch?

Der Germanist Hans Wagener hat sich für seine Gabriele-Tergit-Biografie tief in die Archive begeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Konstatiert jemand öffentlich, er oder sie sei eine BerlinerIn, so muss das nicht immer bloß rhetorisch gemeint sein wie im Falle John F. Kennedys. Wenn etwa die Schriftstellerin Gabriele Tergit feststellte, sie sei eine „Berliner Jüdin“, die „ungewöhnlich verwurzelt in dieser einmaligen Kultur und Konstellation“ sei, so ist dies ohne Abstriche wortwörtlich zu nehmen. Und wenn ihr Biograf Hans Wagener feststellt, dass sie später das „exemplarische Leben einer jüdischen Exilantin“ führte, so ist dies nicht weniger zutreffend. Seine Biografie der Autorin gilt es hier vorzustellen.

Ins Exil gezwungen wurde Tergit wie soviele andere vom Nationalsozialismus. Mit zahllosen AutorInnen und KünstlerInnen teilt sie zudem das Schicksal, dass ihre Karriere durch die Vertreibung „aus der Bahn geworfen“ wurde, obwohl sie „trotz aller Widrigkeiten ihres Exils“ auch in London unvermindert weiter arbeitete. Mehr noch, Tergit hat sich als PEN-Sekretärin „größte Verdienste“ um die Deutsche Literatur erworben. Völlig zu Recht spricht Wagener ihrem Leben und Werk daher „paradigmatische Bedeutung“ für das Dasein Kulturschaffender im Exil zu.

Heute ist Gabriele Tergit nur noch wenigen einen Begriff. Dass die Autorin überhaupt noch jemanden bekannt ist, ist vor allem ihrem satirischen Roman „Herr Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ von 1931 zu verdanken, der von zahlreichen ZeitgenossInnen als Schlüsselroman gelesen wurde. Zu Recht hält Wagener einer solchen Lektüre entgegen, es gehe nicht darum, „,dass man wiedererkennt, wer hinter wem steht, sondern um jeweils zeitdiagnostisch für typisch erachtetes Verhalten“.

Schon vor der Veröffentlichung ihres Erfolgsromans war die 1894 geborene Autorin aufgrund ihrer Gerichtsreportagen bekannt und anerkannt gewesen. Nachdem sie die „Frauenschule“ von Gertrud Bäumer besucht hatte und dort von Vertreterinnen der zeitgenössischen Frauenbewegung wie Lily Dröscher und Alice Salomon unterrichtet worden war, hat sie Geschichte und Soziologie – unter anderem bei Max Weber – studiert.

1928 trat sie mit dem Architekten Heinrich Julius Reifenberg vor den Traualtar. Bald darauf wurde sie Mutter eines Jungen. Ein Mädchen hätte sie wohl glücklicher gemacht. Denn, so zitiert sie der Autor, „eine Frau muss eine Tochter haben.“ Ihr Sohn sollte allerdings ihr einziges Kind bleiben.

Möglicherweis spielte der Besuch von Bäumers Schule eine Rolle dabei, dass sie Anfang der 1930er-Jahre dem Frauenverein Sorores Optimae beitrat, „in dem jedes Mitglied einen anderen Beruf haben musste“, der in den Sitzungen vorgestellt wurde. Eine Feministin war sie allerdings wohl nie. Dies gibt Wagener die Gelegenheit, sich zu der antifeministische Bemerkung zu versteigen, Tergit sei „keine Feministin, sondern eine denkende Frau“ gewesen. Dürfte es auch einem maskulinistischen Fehlschluss anzulasten sein, dass sich Feminismus und Denkfähigkeit ausschließen, so kann er immerhin eine Belegstelle dafür anführen, dass Tergit keine Feministin war, zumindest gegen Ende ihres Lebens nicht. Denn da erklärte sie in einem Interview kategorisch: „Ich mach doch diesen Quatsch mit der women’s lib nicht mit.“

Was nun ihre schriftstellerische Tätigkeit betrifft, so hatte sie von 1920 an im Feuilleton der „Vossischen Zeitung“ und des „Berliner Tageblatts“ als freiberufliche Autorin Gerichtsreportagen publiziert. Sie berichtete nicht als Juristin, die sie nicht war, von Berliner Strafverfahren, sondern „betrachtete die Rechtsfälle von der menschlichen Seite aus“, und schrieb ihre Reportagen mit „viel Ironie und Witz, manchmal auch mit einem Gutteil Berliner Schnauze“. Dabei interessierte sie sich insbesondere für „die schwierige Situation der Frauen in der sich zuspitzenden wirtschaftlichen Lage der zwanziger Jahre, wie sie in Verstößen gegen das Abtreibungsgesetz eklatant deutlich wurde.“ Der Biograf berichtet durchaus in der angemessenen Ausführlichkeit darüber, wenn auch nicht immer in der wünschenswerten Klarheit. So erklärt er etwa, Tergit habe „nicht den Abtreibungsparagraphen 218 per se kritisiert“, sondern „stattdessen die Politiker, die den Paragraphen noch nicht abgeschafft hatten.“ Ein wenig ungereimt klingt das schon.

Neben den Gerichtsreportagen widmet sich der Germanist Wagener in erfreulicher Ausführlichkeit der Darstellung und Interpretation von Tergits beiden großen Romanen, dem bereits erwähnten „Käsebier“ und ihrem „Opus magnum“, dem Nachkriegsroman „Effinger“ (1951), „eine Art jüdisches Pendant zu Thomas Manns ,Buddenbrooks‘“. Die „Parallelen zu manchen Ereignissen“ in Manns Roman, seien „manchmal frappierend“, befindet Wagener und lässt den Ruch des Plagiatsvorwurfs durch die Zeilen seines Buches wehen, ohne dass er ihn allerdings explizit erheben würde.

Ihre Arbeit als Gerichtsreporterin nahm Tergit nach dem Nationalsozialismus – zumindest kurzzeitig – wieder auf. Nachdem sie diese Tätigkeit 17 Jahre hatte ruhen lassen, berichtete sie im Auftrag der „Neuen Zeitung“ über den Prozess gegen Veit Harlan, den Regisseur des antisemitischen Propagandafilms „Jud Süß“ und warf ihm vor, dass er Goebbels Drehbuch nicht noch schlechter gemacht hatte, sondern im Gegenteil versucht hatte, das Beste daraus zu machen. Dauerhaft nach Deutschland zurückzukehren, war für sie allerdings ausgeschlossen, war sie doch sicher nicht ganz zu Unrecht davon überzeugt, 90% der Deutschen seien nach 1945 wieder Nazis geworden, „seit sie genug zu essen haben.“ So blieb sie in London „und tat sich schwer, in den neudeutschen Literaturbetrieb einbezogen zu werden“.

Zwar blieb der Antisemitismus auch nach 1945 weiterhin „das Thema“ ihrer fiktionalen Werke, doch publizierte sie auch einige kleinere Bücher ganz anderen Inhalts: 1954 eine 68 Seiten umfassende Kulturgeschichte mit dem lapidaren Titel „Büchlein vom Bett“, vier Jahre darauf eine „Kleine Kulturgeschichte der Blumen“ und Mitte der 1960er-Jahre ein „Kleines Tulpenbüchlein“.

Vor allem aber engagierte sie sich in ihrem „Amt als Sekretär“ des Exil-PEN, das sie von 1957 bis 1981 innehatte. „Eine ihrer Hauptleistungen als Sekretärin“ erkennt Wagener darin, „dass sie das sehr unregelmäßig erscheinende ‚Mitteilungsblatt‘ des Zentrums in regelmäßig erscheinende ‚Berichte‘ umwandelte, was obendrein faktisch bedeutete, dass sie diese selbst schrieb.“ Überhaupt habe sich Tergit „nicht einfach als Sekretärin“ gesehen, „die im Auftrag zum Wohl des Zentrums handelte“. Vielmehr habe sie sich so sehr mit „dem Londoner PEN Zentrum an sich“ identifiziert, „dass sich verschiedentlich sogar Differenzen mit den diversen Präsidenten ergaben“. 1982, ein Jahr nachdem sie ihr Amt beim Exil-PEN niedergelegt hatte, starb Gabriele Tergit in ihrer Londoner Wahlheimat.

Zweifellos hat Wagener für sein Buch reichlich Archivalien gewälzt, die er ebenso zahlreich und ausführlich – auch schon mal über zwei Druckseiten hinweg – zitiert. So erfährt man einiges bislang Unbekanntes über Tergit und ihren Lebensweg, dessen Stationen er allerdings ziemlich uninspiriert aneinander reiht. Einige kleinere Ungenauigkeiten, die ihm gelegentlich unterlaufen – so nannte sich der von Gerhart Hauptmann mitbegründete Literaturverein nicht „Durch“, wie Wagener schreibt, sondern „Durch!“ – sind hingegen unerheblich.

Titelbild

Hans Wagener: Gabriele Tergit. Gestohlene Jahre.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013.
257 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783847101147

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