Krise auf Dauer

Peter Stamm erzählt in „Nacht ist der Tag“ von der Erfahrung, sein gewohntes Leben zu verlieren, und dem schwierigen Versuch, ein neues zu beginnen

Von Markus BaumRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Baum

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gillian erwacht nach einem Autounfall, der ihrem Mann das Leben und ihr die Nase nahm, orientierungslos im Krankenhaus. Den physischen Verlusts ihres Gesichts macht der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm in seinem Roman „Nacht ist der Tag“ zum Ausgangspunkt einer langanhaltenden Krisenerfahrung, die Gillian zur Suche nach einer neuen Identität führt. Zunächst kann sie sich weder an die Ursache ihres Krankenhausaufenthalts, noch an ihr bisheriges Leben erinnern. Auch ihr Körper, „ein leeres Gebäude voller seltsamer Geräusche, voller unkontrollierter Bewegungen“, gehorcht ihr kaum. Nur langsam erlangt sie die Kontrolle über ihn und ihre Erinnerungen, die Stamm durchgängig mittels unangekündigter Rückblenden vergegenwärtigt, zurück.

Als Teil der oberen Mittelschicht führt Gillian mit Matthias, ihrem als Kulturredakteur arbeitenden Mann, ein wohlsituiertes Leben. Mit dem Erfolg Gillians als Fernsehmoderatorin einer Kultursendung, auf den Matthias mit Eifersucht reagiert, stellen sich die ersten ehelichen Probleme ein. Die Beziehung erhalten beide trotz einer zusätzlichen zunehmenden emotionalen Distanzierung weiter aufrecht. Einen Versuch des Ausbruchs unternimmt Gillian durch die Annäherungsversuche an Hubert, einem von ihr interviewten Künstler, der Frauen nackt bei alltäglichen Verrichtungen fotografiert. Von ihm erhofft sie, nicht wie in ihrem Beruf als anonyme Moderatorinnenfassade, sondern als der Mensch „erkannt zu werden“, der sie ist. „Ich bin gespannt, was du in mir entdecken wirst, sagte Sie zu Hubert“. Doch der Flirt mit Hubert misslingt, er weist sie ab. „Ich sehe nichts in dir“.

An dem Abend einer Silvesterparty findet Matthias den Film, der Gillian nackt zeigt. Es kommt zum Streit. Matthias betrinkt sich bei der Party und fährt dennoch mit ihr im Auto heimwärts. Als ihr Auto gegen ein Reh prallt, stirbt Matthias und mit ihm Gillians altes Leben. Diese Zäsur scheint sie in Form eines notwendigen Ereignisses bereits erwartet zu haben. Dass „sie irgendwann bezahlen musste für alles“, war ihr gewiss. „Das Unglück hatte früher oder später kommen müssen,[…] es war unausweichlich“.

Ruhig, fast gleichgültig reagiert sie daher auf die neue Situation. „Alle Empfindungen, Erleichterung, Wut, Trauer, waren nur Möglichkeiten, die sich nicht realisieren ließen“. Erst nach einer Weile ist sie zu einer emotionale Reaktion fähig. Überraschenderweise erfährt sie den fundamentalen Einschnitt als Entlastung, weil ihr Leben „eine einzige Inszenierung“ war, in der sie, statt sie selbst zu sein, nur eine ihr fremde Rolle übernahm. Durch den Unfall treten die latenten Brüche ihres Selbstbildes offen zutage. Sie „erinnerte sich an die Verzweiflung, mit der sie die Teile aneinandergehalten hatte, als müssten sie wieder zusammenwachsen“. Die plastische Chirurgie kann zwar Gillians Gesicht rekonstruieren, aber nicht den Weg zurück bannen. „Ihr Job, ihre Eltern, Matthias gehörten zu einem anderen Leben. Es ist alles noch da, sagte sie, nur ich bin weg“. Ihr Körper begegnet ihr als „Erbstück“, in das sie „eben erst […] eingezogen war“, ihre Wohnung als kalter Raum voll mit „seelenlosen Accessoires […] (und) Souvenirs, die an keine Erinnerung gebunden waren“. Das „Telefon (nahm sie) nicht mehr ab, […] E-Mails löschte sie, ohne sie richtig zu lesen“.

Hier setzt der zweite Teil des dreiteiligen Romans ein, der sich den Versuchen eines Neuanfangs widmet – dem von Gillian, und dem von Hubert, aus dessen Perspektive nun erzählt wird. Auch Hubert fühlt sich im Leben nicht heimisch. „Früher hatte er sich immer lustig gemacht über die Künstler, die sich auf Professorenposten einnisteten“, nun ist er selbst Lehrer an einer Kunsthochschule, um „nicht als verarmter Künstler zu enden“. Die eigenen künstlerischen Vorhaben liegen brach. Es fehlt ihm an Ideen. „Für die Semesterferien nahm er sich (zwar) jedes Mal Großes vor, dann vergingen die Wochen und er schob die Arbeit immer wieder hinaus“. Aus dem Haus, das er mit seiner Frau und seinem Sohn bewohnt, muss er ausziehen – seine Frau fühlt sich zu einem anderen hingezogen. Als er die Einladung erhält, in einem Ferienklub auszustellen, tritt er zögerlich die Reise in die abgelegene, provinzielle Berggegend an. Die Einladung geht auf Gillian zurück. Sechs Jahre nach ihrem Unfall hat sie eine Anstellung als Leiterin des Entertainmentbereichs in jenem Ferienklub angenommen. Nach einem Zusammenbruch Huberts, der die Ausstellung nie fertig stellen wird, werden Hubert und Gillian im dritten Teil des Buches ein Paar – zumindest verbringen sie viel Zeit miteinander, übernachten zusammen, schlafen miteinander und unternehmen gemeinsam einen Urlaub mit Huberts Sohn. Hubert gibt Malkurse im Klub und arbeitet weiterhin an der Kunsthochschule.

Die von Stamm teils in einem Theatervokabular der Inszenierung und der Rollenübernahme verhandelten Themen sind so alt wie die Moderne selbst. Auf deren negative Folgen, Erfahrungen sozialer Entfremdung, zerrüttete Beziehungen zur Welt, zu Anderen und dem Selbst, reagierten bereits die Klassik des neunzehnten Jahrhunderts und die Romantik in unterschiedlicher Weise. Zwar haben diese Erfahrungen nichts an ihrer Intensität eingebüßt, sodass es der Auseinandersetzung mit ihnen kaum an Relevanz ermangelt. Dennoch wird „Nacht ist der Tag“ hauptsächlich wegen seiner formalen Gestaltung zu einem interessanten Roman. Unter Aussparung sprachlicher Verzierungen und ausschweifender Gefühlsdeutungen reduziert Stamm die Sprache auf ihre grammatikalische Grundstruktur. In der ausschließlichen Konzentration auf die Perspektiven der beiden ProtagonistInnen Gillian und Hubert erzeugt er Intensität nicht durch das Angebot einer naiv-unmittelbaren Identifikation mit beiden, sondern allein und gerade durch einen leisen Ton. Unaufgeregt erzählt er in den drei Teilen von dem dramatischen Unfall, dem Leben davor und dem gemeinsamen Neuanfang danach.

Jedoch wird im dritten Teil zunehmend deutlich, dass das Glück der beiden nur Schein ist. Hubert zieht sich zunehmend zurück, verbringt sogar Nächte bei seiner ehemaligen Frau. Unklar bleibt, ob er Gillian verlassen wird. Offensichtlich wird jedoch, dass sie in Hubert nicht einen vertrauten Menschen sieht, sondern jemanden, auf den sie ihre eigenen Wünsche projizieren kann. „Vielleicht suchte sie die Verunsicherung, in der Hoffnung, aufgerüttelt zu werden. Sie wollte spüren, wer sie war“. Während es in dem Sonett XLIII Shakespears, dem der Titel des Romans entnommen ist, ein einzelner Mensch ist – dessen Abbild nur im nächtlichen Traum erscheint und bereits dort so hell leuchtet, dass unvorstellbar ist, wie dieser Mensch am Tage strahlt –, dem das Sehnen gilt, ist es in „Nacht ist der Tag“ niemand konkretes: Gillian sucht Hubert, „damit er sie aus diesem Leben herausholen würde, das nicht ihres war“. Hubert selbst ist, zugespitzt formuliert, nur Mittel zu diesem Zweck. Das im Sonett dargestellte Sehnen nach einem individuellen Menschen wird im Roman zu einer existentielle Situation, in der das Sehnen eines nach etwas grundlegend Anderem ist. So ist auch Gillians individuelle Krise – eigentlich der Scheitelpunkt eine Entwicklung – ein Dauerzustand.

Zuletzt erkennt Gillian, dass sie alten Verhaltensmustern verfallen ist. Ihr Neuanfang endete erneut in einer ungewollten Rolle. „Mit der Zeit hatte sie sich so gut in ihrem Versteck eingerichtet, dass es ihr vorkam wie ein wirkliches Leben“. Durch diese Erkenntnis jedoch fühlt sie sich nun frei zu „gehen, wohin sie wollte“. Zweifelhaft bleibt zuletzt, ob sie tatsächlich einen anderen Weg beschreiten kann. „Nacht ist der Tag“ legt nah, dass es keinen Ausstieg aus dem inszenierten Leben gibt, sondern nur verschiedene Rollen, die zu spielen sind.

Titelbild

Peter Stamm: Nacht ist der Tag. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
320 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100751348

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