Stimme wider die politische Unvernunft

Stefan Andres’ Drama „Tanz durchs Labyrinth“ erscheint im Rahmen der Werkausgabe

Von Jens PriwitzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Priwitzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stefan Andres’ Karriereträume, als Theaterautor und Dramatiker zu reüssieren, endeten so schnell wie sie jeweils anfingen. Bereits Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre verfasste der Autor mehrere Dramen, vor allem Komödien, die so klangvolle Namen wie „Prozess Goethe“, „Sokrates macht sich ein Bild“ oder „Der tanzende Spion“ trugen. Doch Erfolg war ihnen nicht beschienen. Dass sich der Autor erneut in der Nachkriegszeit als Verfasser von ernsthaften Dramen etablieren wollte, ist heutzutage kaum mehr als eine Fußnote seiner Biografie. Doch aller Neuanfang schien hoffnungsfroh: Für seine ersten Dramentexte, die in den letzten Kriegsjahren und unmittelbar nach Kriegsende entstanden, sicherte sich der renommierte Exil-Verlag Bermann-Fischer die Aufführungs- und Publikationsrechte, ansässig in Stockholm und Verleger von Thomas Mann, Franz Werfel, Carl Zuckmayer und Stefan Zweig. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wurden aber seine Texte wieder kaum inszeniert, unter anderem deshalb, weil sie sich gegen die Ästhetik der ungemein beliebten französischen Existenzialisten wie Albert Camus und Jean-Paul Sartre stellten. Lieber schloss sich Andres einer Poetik wie der Thornton Wilders an, der ebenfalls weit häufiger gespielt wurde. Doch dessen humorvolle Einbettung historischer Not konnte und wollte Andres nicht gelingen.

Sperrzonen der Erinnerung

„Tanz durchs Labyrinth“ ist Andres’ bedeutendstes Drama und nach Jahrzehnten außer Druck nun im Rahmen der verdienstvollen Werkausgabe im Wallstein Verlag wieder zugänglich. Das Stationendrama über menschliche Not wendet sich dem Tragischen zu und knüpft, anstelle sich publikumswirksam das absurde Theater anzueignen, bei antiken Vorstellungen an. Diese Dramenauffassung wollte Andres aktualisieren und für das zeitgenössische Theater fruchtbar machen. Deshalb tritt im „Tanz des Labyrinths“ ein Chor auf, der die Hauptfigur des Fanten anleitet. Die fünf Stationen, vom Neolithikum, dem antiken Athen und Rom, der spanischen Inquisition bis zum nationalsozialistischen Konzentrationslager werden verbunden durch den existenziellen Kampf zwischen dem freiheitsliebenden Individuum und der repressiven Staatsmacht. Jede Station verkörpert eine Phase des Übergangs in der Geschichte der Menschheit und macht durch die Einfügung in die Reihe auch deutlich, dass unter veränderten politischen und sozialen Umständen sich dennoch die gleiche Grausamkeit zwangsläufig zu wiederholen droht. Opfer werden zu Tätern, wenn sie von Objekten zu Subjekten der Geschichte werden, und die Erinnerung an früheres Leid wird unterdrückt, um die Machtausübung in der Gegenwart zu rechtfertigen.

Die Eliminierung der kollektiven und individuellen Erinnerung sowie die Folgen dieses Vorgangs sind wiederkehrendes Thema im Schaffen von Stefan Andres. Der Stunde-Null-Mentalität setzte er sein Opus magnum „Die Sintflut“ entgegen, und auch in dem Hörspiel „Sperrzone“ setzt die Auslösung von Erinnerungsspuren die Handlung in Gang. Auch das Hörspiel – und das gleichnamige Drama, das bereits 1957, also zwei Jahre zuvor, publiziert wurde – steht unter dem Titel „Eine deutsche Tragödie“.

Schauplatz ist der kleine Kurort Heiligenborn, der zu Ende des Krieges von amerikanischen Truppen erobert wurde. Etliche Jahre nach der Kapitulation stört die Verantwortlichen der Gemeinde der von den Amerikanern angelegte Friedhof, da er die Gemüter der Kurgäste beunruhige und somit zur Gefahr für den gesamten Kurbetrieb werde. Stattdessen wolle man lieber die Gräber einebnen und die freiwerdende Fläche in ein „Europäisches Jugenddorf“ und ein Freilichttheater umbauen. Aber schnell zeigt sich in den Gesprächen, dass dieser Umbau weniger einer europäischen Verständigung dienen, als vielmehr die Spuren der jüngsten Vergangenheit auslöschen soll.

Denn das auftretende Personal erweist sich als weit und tief mit der nationalsozialistischen Vergangenheit verstrickt. Kurdirektor Bohne war früher ein scharfer Gau-Redner; die auf dem Friedhof ruhenden Toten mussten sterben, als das nahegelegene Ausweichlager eines Konzentrationslagers kurz vor Einmarsch der Alliierten in die Luft gesprengt wurde. Noch immer prägt das Rassedenken der Nationalsozialisten das Gedankengut und Verhalten der Prominenz von Heiligenborn. Mit einem Stacheldraht umgeben wird der Friedhof nun zur „Sperrzone“ erklärt, die die fürchterliche Wahrheit aussperren und die Erinnerung unter Verschluss halten soll. Doch Hoffnung besteht in Form von Jugendlichen, die durch Studienassessor Welch zu zivilem Ungehorsam aufgerufen werden. Ein abendlicher Fackelzug und mehrere Reden sollen die Erinnerung an die grausame Vergangenheit wieder wachrütteln. Gekonnt setzt Andres die verschiedenen Positionen in Szene und lässt steigert die dramatische Spannung bis zum Schluss, in dem lange vergessen geglaubte Taten wieder eine Rolle spielen. Katharsis und die Erkenntnis, dass die eigene Schuld nie vergessen werden darf, stehen am Ausgang des Stückes.

Auch wenn am Ende des Hörspiels das Schuldeingeständnis steht, so bleibt es doch nur bei einer allgemeinen Formulierung, bei der Betonung einer kollektiven Schuld. Individuelle Verantwortung können und wollen auch Andres’ Figuren nicht übernehmen. Eine Verharmlosung ist dem Autor nicht zu unterstellen, doch zeigen sich hier die Schwächen eines poetischen Unterfangens, das Nationalsozialismus und Holocaust als gegenwärtige Inkarnation eines zeitlosen Bösen interpretiert.

Der Dichter als Mahner und Prophet

Andres schreibt weniger klare politische Statements, sondern versucht der Gegenwart mit Mitteln der Tradition Herr zu werden. Den prägnantesten Ausdruck seines Selbstverständnis als Dichter bringt der Autor in seinem Gedicht „Die Löwenkanzel“ zu Papier, das mit den Worten anhebt: „Der du verkündigst, denk du wirst getragen / von Säulen, die nicht auf der Erde gründen, / doch schwebst du nicht in leichtem Wolkenwagen / erhaben über aufgesperrten Schlünden.“

Der Dichter als Prophet und Mahner, so versteht Andres die Berufung des Poeten. Doch ist diese Position immer prekär, bleibt bedroht von den Löwen, auf deren Rücken er steht, wie der weitere Verlauf dieses Sonetts verdeutlicht. Nicht zufällig entsteht das Gedicht beim Besuch des Doms in Ravello, dessen Kanzel Andres zu dem Gedicht inspirierte. Auch viele der übrigen Gedichte, die der Schriftsteller in den verschiedenen Ausgaben seiner Lyriksammlung „Der Granatapfel“ versammelte, entstanden vermutlich in Italien. Hier lebte Andres zwischen 1936 und 1945 in freiwilliger Entfernung zum nationalsozialistischen Deutschland, wenngleich – durch eine Sondererlaubnis des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda – Erzählungen und Gedichte in Zeitschriften veröffentlicht werden durften.

Den „Gleichgesinnten“ gewidmet, ist diese Lyrik voller dunklen Bilder und Gedanken, die in mythische Bilder gekleidet sind. Sie leben vom mediterranen Setting und entfalten sich häufig zwischen Meer und Wasser, Insel und Festland, gleißender Sonne und tiefschwarzen Nächten. Doch auch Gedichte finden sich in der Sammlung, die kaum oder gar nicht verschlüsselt auf die Zeitgeschichte bezogen sind: „So seh ich dich. An einen jungen kriegsgefangenen Deutschen“ oder, allerdings etwas stärker ins Bildliche geschoben, „Die Gorgonen“. Auch nach dem Krieg führte Andres seine Lyrik weiter und schrieb etliche Gedichte in der Zeit, als er an seinem Hauptwerk „Die Sintflut“ arbeitete. Andres hat später in seinem Leben seiner lyrischen Produktion nur einen beiläufigen Status zugerechnet. Zu unrecht, wie sich bei der Lektüre vor allem der frühen Gedichte zeigt. Denn hier offenbart sich auf knappen Raum, wie der junge Autor nach einer eigenen Stimme sucht und sich der politischen Unvernunft seiner Zeit entgegenwirft.

Der vorliegende Band sammelt die drei Komplexe – das Drama, das Hörspiel und die Lyrik – und verbindet sie zu einem Ganzen, das der Autor nicht intendierte. Doch anstelle nur eine Bündelung von Nebensächlichem und Abwegigen zu sein, führen die versammelte Texte mitten hinein in das Schaffen Stefan Andres’. Sie zeigen einen Autor, der um eine angemessene Haltung zu den Gewalttaten des 20. Jahrhunderts ringt und Worte für das Unsagbare zu finden versucht. So zeigen die Texte innere Verbindungen auf und geben einen guten Einblick in Andres’ Dichterwerkstatt nach dem Ende des Krieges.

Drei Werkkomplexe zwischen zwei Buchdeckeln

Solche inhaltlichen Verbindungen zu ziehen, überbleibt allerdings dem Leser. Denn der Band selbst beziehungsweise seine Herausgeber ziehen sie, zumindest offensichtlich, nicht. Stattdessen findet sich zu jedem Teil im Anhang ein eigenes Nachwort, das ausführlich die Entstehung und die Struktur des jeweiligen (Teil-)Werks behandelt. Wilhelm Große interpretiert die Gedichte als „Stimme gegen die Zeit“ und erschließt die Werke eines Autors, der weithin als Erzähler bekannt ist, hingegen als feingeistiger und wortreicher Lyriker kaum noch wahrgenommen wird. Claude D. Conter wagt den „Tanz durchs Labyrinth“ und berichtet überaus kenntnisreich, wie Andres’ Drama Kontur annahm und welche Wirkung es in der Nachkriegszeit entfalten konnte. Dem Hörspiel „Sperrzonen“ widmet sich intensiv Birgit Lermen, die darauf aufmerksam macht, das aus der Geschichte dieser Kunstform herausgefallen scheint. Im Vergleich zum gleichnamigen Theaterstück, in das Andres das Hörspiel später umarbeitete, zeigt die Autorin, dass Andres im Hörspiel stringenter, konsequenter und insgesamt überzeugender sein Thema, die „Untaten, über welche kein Gras wächst“, bearbeitet hat. Bei so viel Lob auf die Radioproduktion und ihre Sprecher ist es schwer verständlich, warum der Mitschnitt, der anscheinend noch in den Rundfunkarchiven vorhanden ist, dem Band nicht als CD mitgegeben wurde.

Für die vorliegenden Texte wurden, wie bei den anderen Ausgaben der Werkausgabe auch, die Erstausgaben verwendet. Nur bei der Lyrik wurde dem zugrunde liegenden Gedichtband „Der Granatapfel“, in dem Andres Oden, Gedichte und Sonette seines lyrischen Schaffens versammelte, wegen seiner poetologischen Bedeutung das Gedicht „Die Löwenkanzel“ beigefügt. Auch wenn man Andres heute nur noch als bedeutenden deutschsprachigen Epiker kennt, sind seine Werke in anderen Gattungen nicht minder aufschlussreich und auch heute noch mit Gewinn zu lesen. Sowohl das Drama „Tanz durchs Labyrinth“ und das Hörspiel „Sperrzonen“ als auch die Gedichte zeugen von der Kraft eines Autors, sich  mit den Mitteln der Poesie Gegenwart und unmittelbare Vergangenheit zu erschließen und vor den Abgründen der Zeit zu mahnen.

Schade ist nur, dass die Einheit der drei Werkkomplexe zunächst allein durch die Buchdeckel erreicht wird. Die jeweiligen Nachworte konzentrieren sich nur auf ihren Gegenstand und unterlassen es offensichtlich, Querverweise und Bezüge zu den anderen literarischen Texten des Bandes herzustellen. Wünschenswerter wäre stattdessen ein umfassendes Nachwort gewesen, das Andres’ Versuch der Poetisierung von Holocaust und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft stärker nachgeht. Denn so bleibt als Erkenntnis leider unkommentiert, das Andres selbst neben dem Bewusstmachen auch immer zugleich die Schuld mythisch überhöhte und damit zugleich deutlich ins Unfassbare verschob. So bleibt der Schrecken ein mythologischer Dämon, der sich nur verbannen, aber nicht sezieren lässt.

Titelbild

Stefan Andres: Tanz durchs Labyrinth. Lyrik, Drama, Hörspiel.
Herausgegeben von Claude D. Conter, Wilhelm Große und Birgit Lermen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
317 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783835309166

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