Die Furcht, das Staunen und der Respekt vor einer neuen Ästhetik

Über Guido Erol Öztanils Buch „Stumme Lichtzeichen. Arno Schmidt und das Kino“

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Werk Guido Öztanils ist ein faktenreiches Buch über Film und Kino, mit vielen profunden Beobachtungen über die Kultur und die Mentalität von den 1920er- bis zu den 1950er-Jahren. Im 20. Jahrhundert wurde der Film das Medium, das unter Literaten für Unruhe sorgte. Bertolt Brecht schrieb 1931, die ihn irritierende Verfilmung seiner „Dreigroschenoper“ vor Augen: „Der Filmesehende liest Erzählungen anders. Aber auch der Erzählungen schreibt, ist seinerseits ein Filmesehender.“

Andere sprachen von der „nervenzerstörenden Wirkung“ des Kinos. Der französische Regisseur René Clair schrieb über den Kinobesucher, der am Ende plötzlich wieder im Hellen sitzt: „Er geniert sich ein wenig, und sein kritischer Blick erwacht.“ Hier und auch sonst immer wieder geht es um die Furcht oder die Scheu der Künstler vor einem neuen Medium und seinen Bildern – vor seinem Bilderreichtum, seiner ungeheuer publikumswirksamen Bilderschwemme. Die Schriftsteller, die ja mit Bildern souverän umgehen wollten, haben die Bilderwelt des Films, diese (um mit Walter Benjamin zu reden) technisch reproduzierbare Kunst, als ihren Rivalen angesehen. Es ist dieselbe Furcht, die schon im neunzehnten Jahrhundert die Literaten angesichts der sich ausbreitenden Welt der Fotografie ergriffen hatte.

Öztanil bringt in seiner Einleitung die eben genannten typischen Zitate (und noch viele mehr) und betont, dass für die Klarsichtigen, für Döblin etwa, die Bilderschwemme gerade die neue und entscheidende zukunftsorientierte Qualität war. Entsprach doch diese Fülle der beschleunigten Wahrnehmungspraxis in der modernen Zeit.

Der Schriftsteller Arno Schmidt (1914-1979) hat sich im Alter zum Film als einem seiner fruchtbaren Anreger bekannt, doch nur in unauffälliger Weise. Er hat nämlich in „Zettel’s Traum“ seine Hochachtung vor den großen Panoramen kundgetan – diesen in Rundbauten angebrachten historischen Großgemälden – und hinzugefügt, auch das Kino liefere einen „panoramic screen“. Außerdem ist das junge Mädchen Julia in seinem letzten Roman „Julia, oder die Gemälde“ inspiriert von seiner Erinnerung an ein Foto der Schauspielerin Lya Mara (geboren 1893), die ein Star des deutschen Stummfilms war. Das wichtigste Film-Motiv in Schmidts Werk – und nun sind wir bei einem Glanzpunkt von Öztanils Studie – ist der „Schwellenreißer“, der in einer Nazi-Wochenschau auftritt, die der Soldat Arno Schmidt 1944 in Norwegen gesehen hat. Der Schwellenreißer, Öztanil stellt ihn in mehreren Fotos vor, ist ein mit einer stählernen Kralle versehener Wagen, den die Lok über das Bahngleis zieht, das er hinter sich zerspaltet und  zerstört. Dieses grässliche Ding, Kriegsinstrument und zugleich packendes Hauptobjekt eines Films, kehrt in Schmidts Werk wieder als Symbol für Unumkehrbarkeit, Vernichtung und menschliche Bosheit – in Schmidts Erzählung „Leviathan oder die beste der Welten“ (1949). Sie spielt am Ende des Krieges in der Nähe von Lauban (Lubań) in Schlesien.

Sogar Schmidts Erzählweise als Ganzes mit ihrer Schnitt-Technik könnte von der Filmästhetik bewirkt worden sein. Öztanil lässt daran keinen Zweifel und nennt entsprechende Statements von Alexander Kluge und anderen über Schmidt. Gegen diese Einschätzung spricht, dass Schmidt gerade in seinen poetologischen Studien namens „Berechnungen“ den Film als eine manipulative Macht erwähnt, der alberne Wunsch-Tagträume provoziere. Öztanil nennt diese Stellen.

Überhaupt hat Schmidt immer wieder diese „manipulative Macht des Films“ bemerkt und das Filmwesen als ein kollektives Blendwerk bezeichnet. Diese Verurteilung war aber oft nur eine Pose des ‚Intellektuellen Schmidt‘. Gab es doch Filme, die ihn angelockt und fröhlich gestimmt haben. Öztanil zitiert diesbezüglich aus den Tagebüchern der Ehefrau Alice. Als die Schmidts 1952 auf Einladung Rowohlts in Hamburg waren, ließen sie sich statt der vorgesehenen Opernkarten Geld geben und sahen den Lustspielfilm „Die Försterchristl“. Alice: „Arno lachte noch lange über den Simmerl“, den kuriosen Hofbeamten bei Kaiser Franz Joseph.

Öztanil ergänzt sein Aufspüren von filmischen Motiven bei Schmidt durch eine ‚Filmographie Arno Schmidt‘, ein kommentar- und bilderreiches Verzeichnis der Filme, die Schmidt gesehen hat. Er hat dafür die erhaltenen Fernsehzeitschriften Schmidts, die Schmidts spontane Anstreichungen zeigen, und Alices Aufzeichnungen durchgesehen.

Außerdem bespricht Öztanil die Eisenbahnfahrten, die Schmidt als Kind von seinem Wohnort Hamburg nach Schlesien unternommen hat. Die Seh-Erlebnisse aus dem Zugabteil heraus seien für ihn prägend gewesen, Schmidts Freude am Kino habe hier ihren eigentlichen Anfang: Im Zug wie im Kino ist der Zuschauer „bewegungslos“ und spürt doch ständig eine Bewegung, ein Bewegtsein „getrennt von sich“. Das Sehen vom Zug aus sei ein „filmisches Sehen“.

Bemerkenswert ist auch Öztanils Interpretation der Kino-Episode in Schmidts Erzählung „Aus dem Leben eines Fauns“ (1953); die Episode spielt 1944. Schmidt stelle das Verdummende, nämlich die im Film enthaltene direkte und indirekte Nazi-Agitation heraus. Außerdem gebe Schmidt anzügliche Kommentare zu dem Gezeigten; sie charakterisieren die prüde Liebesgeschichte des Films als einen kaschierten Sex-Traum. Hinzu kommt diese Entdeckung Öztanils: Der Kinobesuch, den Schmidt hier erzählt, mit seinem Geschehen auf der Leinwand bezieht sich nicht auf einen, sondern auf vier Filme, und zwar aus den Jahren 1930 bis 1952. Schmidt kreiert also eine epochenübergreifende und anachronistische Collage von Filmszenen. Mit diesem Mixtum, diesen gleichzeitigen Blicken in die Vorkriegs-, die Kriegs- und die Nachkriegszeit, führt Schmidt vor, dass die Begriffe ‚Neubeginn‘ und ‚Stunde Null‘ Fiktionen gewesen seien: Der geistige Horizont der Durchschnittsdeutschen war vor 1945 und nach 1945 derselbe. Arno Schmidt hatte Recht, seine ideologiekritische These von der geistigen „Kontinuität“ gerade am Medium des Films vorzuführen; man denke nur an die große Bedeutung, die die Heimat und die Verehrung autoritärer Persönlichkeiten in den deutschen Filmen sowohl der Nazizeit als auch der Zeit danach bis um 1960 hatten.

Öztanils Buch hat eine große Spannweite: Natürlich stehen Arno Schmidt und sein Verhältnis zum Kino im Mittelpunkt, aber zugleich geht es einerseits um die grundsätzlichen Neuerungen, die Film und Kino in das kulturelle Leben eingebracht haben, und andererseits um etwas Poetisches, um die Feinheiten von Schmidts Erzählweise. Drei Punkte möchte ich dabei noch hervorheben: Zum einen Öztanils Sorgfalt in seinen historischen Einschätzungen. Man beachte da seine Analyse der berühmten Fridericus-Rex-Filme mit Otto Gebühr, die exzellente Kino-Ästhetik, kanonisches Bildungswissen der Deutschen und eben auch schlimme antidemokratische Propaganda präsentierten. Sodann Öztanils Eindringen in Schmidts Biografie: Die Kindheitserlebnisse, die Schülerjahre, der Alltag des Ehepaars Schmidt, die Schaffensjahre bis ins Alter – alles ist hier gegenwärtig und wird mittels Fotos und Manuskript-Ablichtungen verlebendigt. Und schließlich: Der Film-Kenner Öztanil hat auch für sein Begleitmaterial vorzüglich recherchiert. Die zahlreichen Wiedergaben von Filmszenen, Kinoplakaten und Programmheften – absolute Raritäten aus Filmmuseen und Filmarchiven – sind eine Freude schon beim Durchblättern.

Es gilt also: Selbst für den, der es über Arno Schmidt gar nicht so genau wissen will, ist diese Studie ein Genuss.

Titelbild

Guido Erol Öztanil: Stumme Lichtzeichen. Arno Schmidt und das Kino.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2012.
559 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783865252661

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