Ursachenforschung

Fünf Erzählungen von Henry James liegen erstmals in deutscher Übersetzung vor

Von Niels PenkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Niels Penke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Überschaut man das Angebot deutschsprachiger Henry-James-Übersetzungen, kann leicht der Eindruck entstehen, er habe eher wenig geschrieben. Hinter den omnipräsenten „Schraubendrehungen“, dem „Portrait einer Dame“ und „Daisy Miller“ verschwindet der große – übersetzte wie unübersetzte – Rest. Und das zu Unrecht, wie mehr als eine der fünf hier erstmals in deutscher Sprache vorliegenden Erzählungen behauptet. Dabei ist bei einigen durchaus die Frage angebracht, warum die Übersetzungen eigentlich erst so spät kommen.

Den Auftakt der von Ingrid Rein übersetzten Auswahl markiert „Georginas Gründe“. Mit über 140 Druckseiten gleich die umfangreichste Erzählung der Sammlung – und davon benötigt sie auch einige, um ihr Potenzial entfalten zu können. Es ist die Geschichte einer zunächst unerklärt gescheiterten Eheschließung, deren schwierige Anbahnung und anschließende Geheimhaltung minutiös rekonstruiert werden. Der kalkulierenden Georgina steht ein ahnungsloser Ehemann gegenüber, der aufgrund seiner Marinetätigkeiten weder etwas vom gemeinsamen Kind mitbekommt, noch davon, dass seine Frau es in Europa weggibt. Trotz der überraschenden Entdeckung verweigert sie ihm die Scheidung und die Erzählung läuft auf jenes zynische Ende hinaus, das die in Aussicht gestellte Wendung und eine als verdient empfundene glückliche Versöhnung mit dem Leben bricht. Wiederum überraschend, doch gerade darin umso bitterer: In seiner Entsagung wartet er noch immer. „Georginas Gründe“ ist eine im Grunde schlichte Erzählung, die viele Elemente des Gesellschaftsromans aufgreift und dadurch in den Details viel über die europäisch-amerikanischen Beziehungen und entsprechende Denk- und Handlungs-Stereotype der Jahrhundertwende verrät.

„M. Briseux’ Liebchen“, die früheste der fünf Erzählungen aus dem Jahr 1873, ist noch deutlicher traditionsverhaftet und lässt sich als weitgehend konventioneller Nachglanz romantischer Genieerzählungen begreifen. Rückblickend wird eine glückliche Begegnung erinnert, aus der das vollendete Kunstwerk eines Künstlers hervorging. Dieser war arm – und damit chancenlos, der Welt sein Können zu beweisen – in das Atelier eines anderen Malers gekommen und hatte in einem wagemutigen Moment das misslungene Portrait auf der Staffelei „gerettet“.

Die titelgebende Geschichte „Wie alles kam“ stellt sich, durchaus überraschend, als der erste Höhepunkt dieser Auswahl heraus. Denn ihr Anfang verspricht wenig Gutes. Nach allzu bekanntem Muster wird hier zu Beginn geheimnistümelnd viel angedeutet, das jedoch glücklicherweise keine derart banale Fortsetzung oder Auflösung findet. Vielmehr erweist James mit diesem Vorläufer zu „The Turn of the Screw“ eine ähnliche Meisterschaft wie in seiner wohl bekanntesten Erzählung. „Wie alles kam“ stellt das Modell einer konventionellen Liebesgeschichte in den Mittelpunkt, um das herum kunstvoll die Fäden einer Gespenstergeschichte geflochten werden. Die kaum ,unerhörte’ Eifersucht einer Frau, die glaubt, ihren Verlobten zöge es zu einer anderen hin, erfährt den Anreiz dadurch, dass sie ihn nach einem, wie James es bezeichnete, post-mortem interview, an eine Tote „verliert“. Die als Manuskriptfiktion daherkommende Erzählung will als Tagebuch „unserer Freundin“ authentisch wirken. Umso stärker ist der Bruch, den die Gespenstersichtungen markieren. Eine Auflösung, ob diese Erscheinungen über psychologische Erklärungen wegrationalisierbar sind oder ob sich wirkliche Besuche aus dem Jenseits ereignen, ist zu keiner Seite vollends möglich. Die Unentscheidbarkeit bleibt erhalten, die Stimmung unheimlich, der Text zwischen realistischem Melodram und makabrer Gespenstergeschichte in der Schwebe fantastischer Erzählkunst.

„Augengläser“ nimmt sich dagegen deutlich profaner aus und leistet einen Beitrag zur Geschichte des Lookismus. Abermals als Eheanbahnungs- und Liebesgeschichte verkleidet, steht hier die Stigmatisierung einer Schönheit durch eine Brille im Fokus. James seziert ein darauf gegründetes strategisches Handeln, das über ein Leben mit der „Entstellung“ letztlich auch zum „Glück“ führen kann: In der Wiederherstellung der äußeren Schönheit durch Erblinden lässt der Autor – auf ebenso absurde wie grausame Weise – alle Figuren ihre gewünschte soziale Stellung und Rolle einnehmen.

Im finalen Meisterwerk des Bandes, „Kollaboration“, tauchen zwar viele Motive – Heirat und Entsagung, Inspiration und Künstlertum, und vor allem das für James zentrale international theme, die Konfrontation von ,neuer Welt’ und ,altem’ Europa – erneut auf, die aber dank einer pointierten Darstellung nicht langweilt. Vielmehr führt sie die Themen zusammen, die sich in der ,Kollaboration’ eines französischen Dichters und eines deutschen Komponisten in Paris verschränken. In einem internationalen Umfeld steht ihr supra- oder antinationaler Kosmopolitismus gegen die Ressentiments jener, die an der „Krankheit des Patriotismus“ laborieren und das künstlerische Gemeinschaftswerk, die „ungeheuerliche“ Kollaboration zugleich als das verstehen, was sie ihrem zweiten Wortsinn nach ist: gemeinsame Sache mit dem Feind, und eine elaborierte Form unverzeihlichen Hochverrats. Dieser Haltung stellt James’ ,moralischer Realismus’ die Versöhnung durch die Kunst gegenüber, in der für „derartige Unsitten einfach kein Platz ist.“

Titelbild

Henry James: Wie alles kam. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Ingrid Rein.
Manesse Verlag, Zürich 2012.
475 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783717522706

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