Die Beschwörung des Lebens durch die Fiktion

Mario Vargas Llosas jüngster Roman „Ein diskreter Held“ sowie ein neues Buch zum Leben und Werk des Nobelpreisträgers

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als vor einigen Monaten sein Essayband „Alles Boulevard“ („La civilización del espectáculo“) in deutscher Übersetzung erschien, musste Mario Vargas Llosa angesichts der doch recht konventionellen Kulturkritik des Bandes, nicht arm an Klagen über den Zustand von Kultur und Öffentlichkeit, Hohn und Spott über sich ergehen lassen.

Seinem nun nahezu zeitgleich mit der spanischen Ausgabe in deutscher Übersetzung (wiederum von Thomas Brovot) vorliegenden jüngsten Roman „Ein diskreter Held“ („El héroe discreto“) fehlt es zwar, wenn man so will, gleichfalls nicht an moralischem Gehalt. Dieser tritt nun aber im selbstironischen Gewand des Vargas-Llosa’schen Erzähltones auf, sodass mancher Leser und Rezensent sich versucht sehen mag, einen versöhnlicheren Blick zurück und unter die scheinbaren Plattitüden seiner Kulturkritik zu werfen. Man findet sich unversehens in den windungs- und verwicklungsreichen Untiefen einer lateinamerikanischen Telenovela wieder – für die Romanfiguren und den Erzähler gilt das nicht weniger als für den Leser. Und was für eine Telenovela!

Vargas Llosa siedelt seinen Roman wieder einmal in seiner peruanischen Heimat an. Die zwei in einander abwechselnden Kapiteln erzählten Stränge des Romans stellen uns zwei Geschäftsleute fortgeschrittenen Alters vor, deren unternehmerisches Lebenswerk durch familiäre und gesellschaftliche Abgründe in Gefahr gerät. Insbesondere sind es Söhne, die in beiden Fällen eine unrühmliche Rolle spielen. Zum einen ist da Ismael Carrera, der inzwischen über 80-jährige Inhaber einer erfolgreichen Versicherungsgesellschaft in Lima, der verhindern will, dass seine missratenen Sprösslinge, die Zwillinge Miki und Schlaks, nach seinem Tod ihr Erbe verschleudern und die Firma ruinieren könnten. Darum heiratet er kurzerhand seine kaum halb so alte Hausangestellte Armida. In Piura wiederum, im Norden Perus, ist es der Transportunternehmer Felícito Yanaqué, der sich mit Schutzgelderpressern herumschlagen muss. Getreu dem von seinem Vater übernommenen Vorsatz „Lass dich niemals von irgendwem herumschubsen“ weigert er sich nicht nur mit einigem Starrsinn, auf die Erpressung einzugehen, sondern schaltet die Polizei ein und prangert außerdem die Erpressung in aller Öffentlichkeit an. Damit macht er sich zwar zum Helden seiner Piuraner Mitbürger, muss jedoch auch einen Brandanschlag auf sein Unternehmen hinnehmen, schließlich wird gar seine junge Geliebte entführt.

Glücklicherweise müssen beide sich den jeweiligen Übeln nicht allein stellen. Als Ismael und seine neue Frau unmittelbar nach der Hochzeit gen Europa abreisen, bleiben sein Chauffeur und sein Geschäftsführer, die einzigen Mitwisser und Trauzeugen, in Lima zurück und müssen dort alle Anfeindungen der Zwillinge über sich ergehen lassen, die mit juristischen Tricks und boulevardesken Verleumdungen die Annullierung der Ehe und die Entmündigung des Vaters betreiben. Herrn Yanaqué andererseits steht die etwas windige Piuraner Polizei zur Seite. So begegnet der Vargas-Llosa-Leser alten Bekannten wieder, nämlich dem Sergeanten Lituma und seinem Vorgesetzten Leutnant Silva, wie er sie bereits aus „Das grüne Haus“, „Wer hat Palomino Molero umgebracht?“ und „Tod in den Anden“ kennt, sowie der Familie des Don Rigoberto und ihren erotischen Eskapaden („Lob der Stiefmutter“, „Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto“). Rigoberto allerdings hat es nicht nur mit den Söhnen seines Chefs zu tun, sondern wiederum eigene Sorgen, die seinen Sohn Alfonso betreffen.

Ismael Carrera, sein Geschäftsführer Rigoberto und Felícito Yanaqué, Männer mit Prinzipien also, sind es, welche sich, ohne Aufsehen darum zu verursachen, ihren jeweiligen Herausforderungen stellen. Ein im besten Sinne diskretes Heldentum, erzählt in unerwarteten Wendungen, nicht ohne erotische Momente und mit einer bunten Schar an Nebenfiguren. Man ist durchaus aufgefordert, sich das vom Autor dem Roman vorangestellte Borges-Zitat zu Herzen zu nehmen: „Unsere schöne Aufgabe ist es, uns vorzustellen, dass es ein Labyrinth gibt und einen Faden.“ Es sei außerdem verraten, dass sich zwischen beiden Erzählsträngen schließlich unerwartete Querverbindungen ergeben. Außerdem werden heimische Bollwerke der Kultur gegen den Boulevard draußen errichtet, die zwar nicht von außen geschleift werden, aber doch von innen durch Justin Bieber und „Fluch der Karibik“ unterminiert. Da werden die großen existenziellen Fragen aufgeworfen, und dies doch mit ironischer Note. Was die Älteren hier zu bieten haben, ist keine Wahrheit, keine bessere Welt, sondern eine Haltung zum Leben und zur Welt.

Sind dies nun „mittlere Helden“, wie man sie von Vargas Llosa kennt? Einerseits sind es gewiss keine historischen Gestalten vom Schlage eines Roger Casement, den sich Vargas Llosa in seinem letzten Roman „Der Traum des Kelten“ (2010, in deutscher Übersetzung 2011) vorgenommen hatte. Aber es sind doch auch keine Figuren, die wie Casement, der unter anderem die Kongogräuel aufdeckte und später als irischer Freiheitskämpfer gegen die Briten kämpfte, letztlich an und mit ihren Idealen scheitern, zerrissen „zwischen Idealismus und Leidenschaft, aufgeklärtem Humanismus und mystischem Märtyrertum“ (Oliver Pfohlmann). Vielmehr sind es ebenjene prinzipientreuen, namenlosen Frauen und Männer, von denen Vargas Llosa die moralische Bestandskraft einer Gesellschaft abhängig weiß, denen er sein neuestes Werk nach eigenem Bekunden gewidmet hat.

Zur Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der literarischen Figuren Vargas Llosas, aber auch mit Blick auf eine werkgeschichtliche Einbettung seines jüngsten Romans sei an dieser Stelle außerdem ein in der Reihe „Schreiben andernorts“ bei edition text + kritik frisch erschienener Band von Hans-Jürgen Schmitt empfohlen. Dieser nimmt sich in einem Streifzug der Biographie, einzelner Werke und Themen unseres Autors an. Dabei wurde in einem knappen abschließenden Kapitel auch noch der neue Roman „Ein diskreter Held“ berücksichtigt. Schmitt legt besonderen Wert auf Vargas Llosas spezifischen literarisch-fiktionalisierten Realismus, die ‚Wahrheit der Lügen‘ seiner Literatur. Dabei finden die komplexen Erzählstrategien der früheren Werke – der novela total der 60er-Jahre – ebenso Berücksichtigung wie die Kriminal-, Abenteuer- und historischen Romane der jüngeren Zeit. Und obwohl der Schwerpunkt deutlich bei den Romanen liegt, kommt auch Vargas Llosa als politischer und journalistischer Autor und in seinem Engagement für die liberale Demokratie in Lateinamerika nicht zu kurz, wie er es sich, nach Abkehr von den linkspolitischen Sympathien seiner frühen Zeit, in einer entschieden skeptischen und freiheitlichen Haltung zu eigen gemacht hat. Es handelt sich dabei um die erste umfassende deutschsprachige Monographie zum literarischen Gesamtwerk des 1936 geborenen Nobelpreisträgers seit über 20 Jahren. Sie bietet sich – nicht zuletzt im Hinblick auf das ambivalente Heldentum der Haupt- und Nebenfiguren bei Vargas Llosa – als ergänzende Lektüre zu seinem neuen Roman an, ist aber auch unabhängig davon sehr lesenswert.

Titelbild

Mario Vargas Llosa: Ein diskreter Held. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Thomas Brovot.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
381 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424001

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Renate Oesterhelt (Hg.) / Hans-Jürgen Schmitt: Mario Vargas Llosa. Der peruanische Kosmopolit.
edition text & kritik, München 2013.
236 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783869162553

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