Und sie fanden keine Herberge

Aki Ollikainen erzählt in seinem berührenden Roman „Das Hungerjahr“ vom Schicksal einer finnischen Flüchtlingsfamilie

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Finnland, im Herbst 1867. Nach schlechter Witterung und den dadurch verursachten Missernten verharrt das Land in einer Hungersnot – der letzten in Europa, die in natürlichen Ursachen wurzelt. Der Agrarstaat Finnland ist noch nicht in der Moderne angekommen; außerhalb der Landwirtschaft mangelt es an Verdienstmöglichkeiten. Die Zeit von 1866 bis 1868 hat sich tief ins Bewusstsein der Bevölkerung eingegraben, und die Erinnerung an die „Hungerjahre“ wirkt in Finnland bis heute nach. Mehrere zehntausend Menschen sind damals umgekommen – nur wer Glück hatte, entkam dem Tod und schaffte es nach Sankt Petersburg oder ins Ausland.

Die Bäuerin Marja bricht mit ihren Kindern Mataleena und Juho zu Beginn des Romans auf, um vor der Hungersnot zu fliehen. Den schon stark geschwächten Juhani, ihren Mann und Vater der Kinder, lässt sie zurück – wohlwissend, dass er den kommenden Winter nicht überleben wird: „Marja drückt Juhani indessen das letzte Strohbrot in die Hand. Sie füllt den Topf mit Schnee und stellt ihn in Reichweite ihres Mannes neben das Bett. ,Mehr kann ich nicht tun‘, flüstert sie.“

Marja will sich mit den Kindern nach Sankt Petersburg durchschlagen; sie hofft, in der Großstadt als Arbeiterin ein Auskommen zu finden. Finnland war im 19. Jahrhundert als autonomes Großfürstentum Teil Russlands. Sankt Petersburg war zu jener Zeit nicht nur die Hauptstadt des Zarenreichs, sondern aufgrund seiner nicht weit von Finnland entfernten Lage auch ein Sehnsuchts- und Zufluchtsort für die Finnen, die dem Hunger zu entkommen suchten. Zeitweilig war Sankt Petersburg sogar die größte „finnische“ Stadt überhaupt – nirgends lebten mehr Finnen am selben Ort als hier.

Aki Ollikainen (Jahrgang 1973) berichtet in seinem berührenden und bisweilen aufwühlenden Roman von der Odyssee Marjas und ihrer Kinder. Dabei zeigt er in den Begegnungen, welche die drei unterwegs haben, die ganze Skala menschlichen Verhaltens auf. Ollikainen verzichtet konsequent auf Kommentare und Wertungen. Schonungslos, ja drastisch wirken manche der Szenen – etwa, wenn die Flüchtlinge wiederholt abgewiesen werden. Doch treffen Marja und ihre Kinder immer wieder auch auf das Mitgefühl der Mitmenschen – wenn diese die Flüchtlinge beherbergen, ihnen ein Stück Brot geben oder sie auch für kurze Zeit an die Wärme eines Ofens lassen.

Schon aufgrund der Namensgebung (Marja – Maria) fühlt man sich in Ollikainens kurzem Roman an die biblische Geschichte der Heiligen Familie erinnert. Doch diese Parallele geht nur bedingt auf. Gerade in den Unterschieden – die an dieser Stelle aber nicht verraten werden sollen – tritt die Tragik im Schicksal Marjas und ihrer Familie umso deutlicher hervor.

Vielleicht soll mit der Anspielung auf die Flucht nach Ägypten vor allem zweierlei geleistet werden: Wenn Ollikainen jene „ersten“ Flüchtlinge in Erinnerung ruft, so verweist er zum einen auf die christliche Dimension des Themas, wie sie etwa im Evangelium zum Ausdruck kommt: „Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.“ Und: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25, 35 und 40).

Und in der Tat stellt der Roman eben auch die Frage nach der Nächstenliebe, dem Glauben und dem Sinn in einer Welt, die von Gott verlassen scheint. Nicht nur das einfache gläubige Volk, sondern auch die Pastoren und die Institution Kirche werden hier auf die Probe gestellt. Zum anderen erschafft der Autor aber gerade auch durch diesen Bezug auf jenen „Urtext“ über eine Flucht einen Rahmen, der weit über das individuelle Schicksal von Marja, Juhani, Mataleena und Juho hinausweist: Der Roman ermöglicht auch eine Reflexion über die conditio jeglicher Flüchtlinge – und so dauert es bei der Lektüre nicht lange, bis einem ein tagesaktuelles Stichwort wie Lampedusa durch den Kopf geht.

Ollikainen schildert die Flucht entsprechend ihrer Chronologie und den einzelnen Etappen der Flucht schrittweise und konsequent. Das Erzählen wird dabei verlangsamt, der Bericht über die beschwerliche Reise ist gleichermaßen präzise wie auch detailliert und lückenlos. Neben der Fluchtgeschichte hat der Autor aber noch einen zweiten Erzählstrang in seinen Roman eingefügt, der zum ersten in einen deutlichen Kontrast tritt: Es handelt sich dabei um eine Reihe von Szenen vorwiegend aus Helsinki, in denen ansatzweise ein paar weitere Menschen – darunter ein Arzt und ein Politiker – porträtiert werden. Diese sind – wenn auch indirekt – ebenfalls von der Hungersnot betroffen und versuchen aufgrund ihrer beruflichen Pflichten oder Fähigkeiten darauf zu reagieren. Die entsprechenden Kapitel dieses Strangs werden aber nur bruchstückhaft erzählt, der zeitliche Ablauf bleibt mitunter unklar, und die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Szenen untereinander sind vorerst sehr locker und erschließen sich einem kaum. Auch scheint dieser Erzählstrang lange keinen konkreten Bezug zu Marjas Geschichte zu haben. Erst spät finden beide Ebenen der Narration auf überraschende Weise zusammen.

Mag sein, dass Ollikainen durch die formal ganz andere Gestaltung der Szenen aus Helsinki auch an ein historisches Faktum erinnern will: Die finnische Autonomieregierung hat damals auf die Hungersnot nur mit beträchtlicher Verzögerung, aber auch mit einer gewissen Ratlosigkeit reagiert. Womöglich hat sie das Ausmaß der Katastrophe anfänglich unterschätzt. In der Welt der politischen Entscheidungsträger und der städtischen Intellektuellen scheint denn auch das individuelle Schicksal Marjas und ihrer Familie zunächst nicht „anzukommen“. Ollikainen deutet aber auch an, dass die Regierung schließlich aus dem Unglück Konsequenzen gezogen und etwa den Bau einer Bahnstrecke von Helsinki nach Sankt Petersburg in Auftrag gegeben hat. Dadurch wurde dem Land ein Entwicklungsschub verliehen, und es entstanden neue Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft.

Letztendlich ist Aki Ollikainens „Das Hungerjahr“ also sowohl ein kleines Geschichtslehrbuch wie auch eine Parabel auf das Flüchtlingsschicksal. Es erzählt von den finnischen Hungerjahren, und es vermag universelle Geltung zu beanspruchen, weil es die Tragödie einer Flüchtlingsfamilie auslotet und dabei zugleich auch den Umgang der Gesellschaft mit der Flüchtlingsfrage beleuchtet.

Titelbild

Aki Ollikainen: Das Hungerjahr. Roman.
Übersetzt aus dem Finnischen von Stefan Moster.
Transit Buchverlag, Berlin 2013.
124 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783887472894

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