Liebesratgeber mit Kochrezepten

Francesca Segals „Die Arglosen“ hat immerhin eines: ein interessantes Vorbild

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei der Entscheidung für einen Romantitel hat der Übersetzer oft wenig mitzureden. Entscheidend sind Marketingfragen nach Zielgruppenspezifik oder rechtliche Aspekte wie der Titelschutz. Im Impressum den ursprünglichen Titel nachzulesen ist immer interessant und manchmal erhellend. Im Fall von Francesca Segals Debütroman „Die Arglosen“ beispielsweise wird erst durch den Originaltitel „The Innocents“ ersichtlich, dass Edith Whartons Klassiker „The Age of Innocence“ aus dem Jahr 1920 mehr ist als nur der Lieferant für das vorangestellte Motto: Segal hat das gesamte Handlungsgerüst übernommen. Die neue Version ist zwar Whartons hellsichtiger Gesellschaftsanalyse in jeder Weise unterlegen, nichtsdestotrotz ist der Bezug zu seinem literarischen Vorgänger das Interessanteste, was „Die Arglosen“ zu bieten hat.

Adam und Rachel folgen pflichtbewusst dem Plan, den die Konventionen ihrer Gemeinschaft für sie vorgesehen haben. Ihre feste Verankerung in der jüdischen Gemeinde Londons bringt es mit sich, dass ihr Bekanntenkreis sich auf einige wohlhabende Familien begrenzt, die einander so uneingeschränkt unterstützen wie prüfend beobachten. Alle wissen, dass die beiden schon als Jugendliche ein Paar geworden sind, dass es eine kurze Beziehungspause gegeben hat und dass Adam, der selbst keinen Vater mehr hat, in Rachels Familie aufgenommen wurde wie ein zusätzlicher Sohn. Er arbeitet zudem in der Anwaltskanzlei ihres Vaters. So kommt die Bekanntgabe ihrer Verlobung für niemanden überraschend. Sie entspricht den Wünschen und Erwartungen aller.

Wie bei Wharton wird der Bräutigam durch die Ankunft der Cousine der Verlobten auf die Probe gestellt. Aus New York, wo sie aufgewachsen ist, bringt Ellie schockierend unkonventionelle Ansichten mit. Hier musste Segal Erfindungsreichtum beweisen. In Whartons Zeiten mag eine verheiratete Dame aus Europa, die ihren Mann verlassen hat, in den USA schockiert haben, heute täte sie das nirgendwo. Bei Segal ist die Cousine stattdessen Fotomodel, die in einem Pornofilm mitgespielt haben soll; später wird sie als heimliche Geliebte eines amerikanischen Kunsthändlers in einen öffentlich ausgetragenen Scheidungskrieg verwickelt. Adam verliebt sich in diese Frau und das durch sie verkörperte, von dem seiner angepassten, liebevoll-naiven Rachel so völlig verschiedene Weiblichkeitskonzept.

In Whartons Vorlage ging es um die Rechte der Frau am Beginn des 20. Jahrhunderts, als eine Scheidung den gesellschaftlichen Ruin bedeutete, auch wenn sie die einzige Fluchtmöglichkeit vor Gewalt und Erniedrigung in der Ehe darstellte. Das Konzept der Ehe repräsentiert in Whartons Roman die Bedingung für gesellschaftliches Fortkommen und öffentliches Ansehen.

Segal kann die Ernsthaftigkeit solcher Fragen nicht einholen. Der Konflikt Adams scheint eher sexuelle Gründe zu haben. Er hegt die – möglicherweise üblichen – Zweifel eines jungen Mannes, der sich durch die Eheschließung die Beschränkung auf eine einzige Sexualpartnerin auferlegt. Das Thema und noch mehr die Aufmachung erinnern stark an populäre Hochglanzmagazine: Auch bei Segal gibt es Unterhaltungen über Rezepte, Tipps für Popmusik und Moderatschläge: „Na ja, jedenfalls hat mir Barnaby die Kekse und das Instant-Puddingpulver von Jell-O mitgebracht. Das Rezept steckt voller Billigzutaten, aber wenn es fertig ist, schmeckt es einfach himmlisch! Also gut, als nächstes muss ich das andere Zeug unterheben.“ Gesellschaftlich wirklich relevante Fragen werden nirgends berührt.

Es hätte interessant werden können: Segal bettet die Handlung in einen explizit jüdischen Kontext; jüdische Traditionen und Festtage strukturieren das idyllisch-gemeinschaftliche Leben der Protagonisten. So hätte der Roman als engagiertes Rewriting verstanden werden können, das sich dem Antisemitismus Edith Whartons selbstbewusst entgegenstellt. Stattdessen hat Segal selbst ihre Bewunderung Whartons und ihr Verständnis für deren durch ihre Zeit bedingte politische Einstellungen ausgesprochen. Viel eher sei die jüdische Glaubensgemeinschaft stellvertretend für viele andere mögliche Gruppen gewählt worden, die ebenso ritualisiert seien wie sie. Nicht nur die Aussagen der Autorin, sondern auch das seichte Dahinplätschern nichtssagender Dialoge und langweiliger Figuren schließen es aus, dem Roman ein kritisches Potential einzuräumen.

Der Vater der Autorin ist der vor wenigen Jahren verstorbene Literaturprofessor Eric Segal. In den 70er Jahren wurden dessen Roman „LoveStory“ und das Drehbuch zur gleichnamigen Verfilmung überraschend zu Millionenerfolgen. Die Tochter hat offensichtlich sein Talent zum Schreiben leichter, unterhaltsamer Liebesromanzen geerbt – sowie ein gewisses Gespür für den Geschmack eines breiten Publikums.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Francesca Segal: The Innocents.
Hyperion Publishers, New York 2012.
288 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9781401341817

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Francesca Segal: Die Arglosen.
Übersetzt aus dem Englischen von Verena Kilchling.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2013.
431 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783036956756

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch