Die Alten und das Erinnern

Valter Hugo Mães beeindruckender Roman „Das Haus der glücklichen Alten“ erzählt vom Lebensende

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literatur, fiktionale Literatur, ist vielleicht gerade deswegen noch immer bedeutsam, weil sie es uns ermöglicht, eine Sichtweise einzunehmen, die wir nicht haben. Weil sie von etwas erzählen kann, was uns gänzlich unbekannt ist. Weil sie uns eine Perspektive bietet, die uns völlig fremd ist. Im Fall von Vampirromanen oder Geschichten kleiner Zauberlehrlinge mag das eskapistisch und, vielleicht, bloß unterhaltend sein. In seltenen Einzelfällen jedoch ist das ergreifend, erschütternd, manchmal bedrohlich, manchmal beeindruckend.

„Das Haus der glücklichen Alten“ ist so ein Fall – ein Roman, der uns eine ganz andere Perspektive anbietet, die wir im Grunde nie einnehmen wollen und doch eines Tages werden einnehmen müssen. Wir lesen die Geschichte eines 85jährigen Ich-Erzählers, des Portugiesen Antonio da Silva, der gerade seine Frau Laura verloren hat und nun ein Zimmer im Seniorenheim bezieht. Valter Hugo Mãe, der eigentlich Valter Hugo Lemos heißt, hat den Roman geschrieben – er ist 2013 bei Nagel & Kimche in einer Übersetzung von Ulrich Kunzmann und Klaus Laabs erschienen und in Deutschland quasi nicht zur Kenntnis genommen worden. Lediglich der Hispanist und Lusitanist Eberhard Geisler hat ihn in einer kurzen Besprechung in der Neuen Zürcher Zeitung kurz nach seinem Erscheinen gewürdigt, ansonsten finden sich kaum substantielle Reaktionen auf den, zugegeben, nicht ganz leicht zugänglichen Text.

Mãe zählt in Portugal zu den wichtigsten Schriftstellern der jungen Generation. 1971 in Angola geboren, kam er als Kind mit seinen Eltern nach Portugal und hat dort Jura und Literatur studiert, heute schreibt er Romane, Lyrik, Kinderliteratur, singt und malt. „Das Haus der glücklichen Alten“ ist sein erster auf Deutsch erschienener Roman und heißt eigentlich ganz anders, nämlich „a máquina de fazer espanhóis“, was etwa als „Die Maschine, um Spanier zu machen“ übersetzt werden könnte. Der Originaltitel ist ein Hinweis darauf, um was es in dem Roman auch geht: um die Vergangenheit und Identität nicht nur des Protagonisten, sondern vor allem des Landes. Es mag mit dem starken Fokus auf Nationalidentität und spezifisch portugiesische Fragen zusammenhängen, dass der Roman außerhalb Portugals so wenig Aufmerksamkeit erfahren hat, wohingegen er dort der meistverkaufte Roman im Erscheinungsjahr 2010 war und 2012 einen der renommiertesten Literaturpreise für Literatur in portugiesischer Sprache überhaupt, den „Prêmio Portugal Telecom de Literatura“, gewinnen konnte.

Doch neben der Frage nach der nationalen Identität und der politischen Vergangenheit bietet „Das Haus der glücklichen Alten“ auch eine ganz substantiell menschliche Perspektive, nämlich die universale Frage nach einem würdigen Leben im Alter. Da Silva möchte von seiner Tochter nicht in ein Altersheim abgeschoben werden, er ist mürrisch und boykottiert zunächst den Kontakt zu den anderen Alten. Es braucht seine Zeit, bis er sich öffnet und es mag ein großer Verdienst dieses Romans sein, dass er auch dem Leser seine Zeit abverlangt, bis er sich ihm öffnet. Es braucht seine Zeit, bis man diesen mürrischen Erzähler als Hauptfigur und Fokus der Geschichte akzeptiert und es braucht seine Zeit, bis man sich mit ihm in diesem Seniorenheim, wo man genauso wenig hin möchte wie er, zurechtfindet. Da sind zuerst vor allem Bitterkeit und Enttäuschung: „Ich spürte, dass sie mich alleinließ, um sich in die Arme ihres Mannes und meiner Enkel zu flüchten, wo das Leben aus lauter Alltäglichkeiten bestand, mit Farbe an den Wänden. Im Heim, im ganzen Haus, sind alle Wände weiß, und zwischen der eindringlichsten Leere des Himmels und den weißen Wänden gibt es keinen Unterschied.“

Zunächst bleiben die Figuren genau wie das Haus seltsam fremd, distanziert, es ist ein Herantasten, was Erzähler und Leser gemeinsam vollziehen. Ein Herantasten auch an den großen Unbekannten, der wie ein Damokles-Schwert über dem Haus schwebt, der Tod. Das Heim ist für jeden der Alten die letzte Station vor dem Tod und so bewusst das jedem der Bewohner auch ist, so schwierig ist es doch, mit diesem Bewusstsein zu leben: „die warten doch alle nur darauf, dass wir nicht mehr denken, wenn wir aber aufhören zu denken, sind wir tot“, heißt es. Denken heißt an diesem Ort aber immer auch, über das Sterben nachzudenken: „Sterben war nur gerecht, damit ich nicht zum blassen Abbild dessen werden würde, was ich mal gewesen bin.“ Darin liegt eine tiefe Traurigkeit, die dem Roman eine existenzielle Schwere gibt und ihn, im Kritikerjargon, ‚schwer verdaulich’ macht – gleichzeitig liegt genau darin jedoch auch seine Bedeutung. Er lässt seinem Protagonisten und den anderen ihr Nachdenken über den Tod und das Altsein, über das Gefühl des Abgeschobenseins, er lässt ihnen ihre Wut und ihre Trauer über die Welt, die sie räumlich um- und ausgrenzt, um sie nicht mehr sehen zu müssen: „Schließlich lächelte ich ebenfalls, mir gefiel meine Bosheit und genau das gab ich rührend ehrlich zu. Ich mag diese Bosheit, wir können nicht alt sein und empfindlich auf alles reagieren, wir müssen hier und da auch mal rebellieren, verdammt, wir müssen zu einer Vergeltung bereit sein, zu einem Kampf, damit die Welt nicht denkt, sie brauche sich nicht um unsere Schmerzen zu kümmern.“

Mãe lässt die Wut der Alten zu und er lässt ihre Albernheiten zu, aber er macht nicht den Fehler, aus seinen Figuren Karrikaturen, überdrehte verrückt-sympathische Greise zu machen, die noch ein letztes Mal ihren Spaß haben. Die Rebellion bleibt, natürlich, eine innere. Denn raus können die Alten nicht, alles muss innerhalb des Heims stattfinden. Auch die Wut: Eines Nachts steht der Erzähler bei einer Mitbewohnerin im Zimmer und schlägt ihr mit einem gewaltigen Buch drei Mal mit aller Kraft auf den Schädel. Die Frage nach dem Warum bleibt unbeantwortet. Sie spotten übereinander, die Alten, sie grenzen aus und klagen sich an. Sie üben Gewalt gegeneinander aus und verletzen sich: „Das ist Gewalt im Alter. Wisst ihr, warum? Weil der Körper unser Feind ist. Weil es der Körper ist, der uns angreift. Wir haben es am Ende mit dem schrecklichsten Tier zu tun, dem Tier in uns, mit der Bestie, die wir selber sind. Die widerliche Bestie die wir sind und die uns nicht mehr erträgt.“

Ihr Zorn, der sich eigentlich gegen den verfallenden Körper und gegen die richtet, die sie hier im Heim lassen und vergessen, kann sich nur nach Innen entladen, genau wie die Würde des Daseins nur aus sich selbst heraus erzeugt werden kann, nicht mehr durch etwas Äußerliches wie Geld, Liebe, Sexualität oder Religion. Und aus dem Inneren, aus dem feindlichen Körper, kommt schließlich auch immer wieder die Erinnerung. An Schönes, aber auch an Schuld und Versagen. Die Erinnerung wird zum quälenden Stachel. Eines Nachts wünscht Silva, wie Aquariumfische zu sein, die, so belehrt er uns, nur ein Gedächtnis von drei Sekunden hätten und so „von der kleinsten Äusserung des Lebens beeindruckt“ wären, „denn die lächerlichste Sache auf dem ersten wahrgenommenen Bild wäre eine funkelnde Explosion der Erkenntnis, lebendig zu sein“. Doch wir haben unser Gedächtnis und die Erinnerung, der wir nicht entkommen können. Und hier werden die Alten zu den Trägern der nationalen Vergangenheit: wenn sie beginnen sich zu fragen, wie viel Diktatur, wie viel Salazar eigentlich noch in ihnen steckt; wenn sie feststellen, dass es vielleicht mehr ist, als sie wahrhaben wollten und als die Gesellschaft wahrhaben möchte und dass das trotzdem kein Grund ist, sich einer – imaginierten – Maschine, die Spanier macht, zu ergeben: „Ich musste schreien, ich wolle als Portugiese sterben, ich wolle Portugiese sein, mit aller Unmündigkeit, die das bedeute, weil ich ein Dreckskerl sei und Strafe verdient hätte, ich hätte aus meiner Heimat ein Land mit Leuten voll Misstrauen gemacht und durchaus kein einiges Volk. Ich musste sagen, dass ich bereute, dass ich nicht ohne Metaphysik enden wolle, dass man mich mit Metaphysik und als Portugiese beerdigen sollte.“

Bei alldem wird „Das Haus der glücklichen Alten“ niemals moralisierend, platt sozialkritisch oder kitschig, es sperrt sich gegen einfache Kategorisierungen: „Wenn die einen die Guten sind, müssen andere die Bösen sein, so linear war das Denken, das man den Portugiesen verkaufte“, stellt Silva fest, aber so einfach ist es hier nicht. Mit Sicherheit wird er am Schluss nicht wissen, ob er die Frau mit den Schlägen auf den Kopf umgebracht hat. Es bleibt unklar, ob sein Freund Esteves, der Hundertjährige, der in einem Gedicht von Pessoa vorkommt, so plötzlich stirbt, weil er unheimlich glücklich oder zutiefst traurig ist. Der Blick zurück auf sein Leben, den der Bericht darstellt, ist für Antonio da Silva alles andere als klar. Der Mythos, man blicke auf dem Sterbebett auf sein Leben zurück und würde sich an die Momente des Glücks erinnern, fällt in sich zusammen. Erinnerung ist nicht glücklich oder traurig, sie ist einfach da. Glücklich wird das Haus für die Alten tatsächlich nur in den Momenten, wo sie die Erinnerung für einen Moment abschütteln, ihr entkommen können. Und doch stellt Silva am Ende für sich fest: „Ich musste mit vollem Bewusstsein sterben, jede Minute der Zeit erinnern, die ich mit meiner Laura verbrachte, und erinnern, wie das Leben nur um sie und die Familie kreiste, wie ich glaubte, ein Mann müsse so sein, so wie mir die Staatsbürgerschaft genügte und ich nichts wissen wollte von Bürgerrecht, Grundmauer der Liebe. Sie sollen mir nicht das Bewusstsein der Liebe nehmen und das ihres Verlustes!“

Damit hat der Roman am Schluss ein Bewusstsein geweckt. Ein Bewusstsein einerseits für die nationale Vergangenheit und für den Umgang mit Erinnerung, ein Bewusstsein andererseits für das Älterwerden und den Umgang mit dem Sterben – eine Perspektive, der wir uns allzu gern entziehen, bis wir uns ihr nicht mehr entziehen können. Der Roman „Das Haus der glücklichen Alten“ konfrontiert uns damit und ist gerade dadurch wahrhaft außergewöhnliche Literatur.

Titelbild

Valter Hugo Mãe: Das Haus der glücklichen Alten. Roman.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Ulrich Kunzmann und Klaus Laabs.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2013.
301 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783312005567

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