Jungkonservatives Milieu, Volkstumsbewegung und „Nationalitätenkampf“

Ulrich Prehn über die Denkhorizonte des Rechtsintellektuellen Max Hildebert Boehm

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Max Hildebert Boehm war ein Freund der raumgreifenden Gebärde und der ebenso raumgreifenden theoretischen Entwürfe. Das wurde schon in seinen frühen Verlautbarungen deutlich, deren Zahl im Krieg von 1914/18 einem ersten Höhepunkt zustrebte. Der Ort, an dem er sich damals vorzugsweise äußerte, waren die „Grenzboten“, ein nationalliberal eingefärbtes Organ, das sich unter der Ägide des Herausgebers Georg Cleinow zunehmend für ost- und volkstumspolitische Fragen geöffnet hatte. Seit dem Spätsommer 1918 gehörte zu den Abnehmern seiner Artikel auch die „Glocke“, ein Journal, das an den rechten Rändern der Sozialdemokratie herumturnte, nationalistische und dezidiert antibritische Töne anschlug. Er sei zwar kein Mitglied der Partei, schrieb Boehm im September 1918 dem verantwortlichen Redakteur Konrad Haenisch, aber er sympathisiere „lebhaft“ mit einer „Zeitschrift des aufbauenden Sozialismus“, deren Merkzeichen „Aktivismus“ und „Antiindividualismus“ seien. Zwei Monate später hegte er keine Bedenken – unbeschadet seiner „bürgerlichen Überzeugungen“ – sich der von revolutionären Erschütterungen hervorgetriebenen Ordnung im Werden als Mitstreiter anzudienen.

Daraus wurde dann doch nichts, wenngleich Haenisch, der frisch gebackene preußische Kultusminister, ihm „alles Gute“ für die „Behauptung des Deutschtums im Osten“ wünschte und versprach, dergleichen Bestrebungen in den bedrohten, alsbald dem neuen polnischen Staat zugeschlagenen Provinzen Posen und Westpreußen zu fördern. Zuvor hatte Boehm einen Beitrag über die künftige Gestalt Europas abgeliefert. Durch den Krieg, hieß es da, sei der Kontinent neu zentriert, vom Westen nach Osten verschoben worden: „Nicht mehr die germanisch-romanische, sondern die germanisch-slawische Völkergruppe“ werde zum Kern eines „Europäismus“ von morgen. Daraus müsse, argumentierte Boehm, eine „Art Völkerbund“ erwachsen – freilich nicht der, den US-Präsident Woodrow Wilson vor Augen hatte. Vielmehr sollte er als „geschlossene Einheit“ über die nötigen Machtmittel verfügen, sich „in einem Weltstaatenkonzert den Machtkomplexen Großbritannien, Nord- oder gar Pan-Amerika, Ostasien gegenüber zu Geltung zu bringen.“ In der „Umlagerung des europäischen Schwergewichts“ werde sich die „Geschichte Preußens so gut wie die unterirdische Geschichte Rußlands erfüllen.“ Die Losung für eine solche Konstellation wäre die „Absage an den Individualismus“ der angelsächsischen „liberalen Weltreaktion“. Denn: „Der Amerikanismus ist der eigentliche, der gefährlichste Feind des neuen Europäismus.“

Dem gesellten sich bald darauf der Bolschewismus und die Sowjetunion hinzu. Ein am Ende des Krieges herbeigewünschter Gleichklang zwischen Rußland und Deutschland, den angeblich „führenden Nationen der europäischen Sozialisierung“, blieb daher folgenlose Episode. Vieles von dem, was Boehm bewegte, war unausgegoren, nicht zu Ende gedacht, und über allem schwebt die Frage, wie man sich die konkrete Umsetzung seiner luftigen Konstrukte vorzustellen hat. Er verstand sich als Politikberater, seine Sache war das Agenda Setting, die Realisierung überließ er anderen. Dabei war er kein lebensferner Stubengelehrter. Seine nimmer müde literarische Produktivität war nur die Kehrseite rastloser Betriebsamkeit. Boehm verstand sich auf die Kunst, Kontakte und Netzwerke zu knüpfen, Projekte zu akquirieren. Berührungsängste hatte er nicht, und sich wandelnden Machtkonstellationen anzuschmiegen, bereitete ihm wenig Kopfzerbrechen. Das galt 1933 und dann wieder 1945.

Ulrich Prehn hat diesem Mann, einem intellektuellen Stichwortgeber aus der zweiten Reihe, eine erschöpfende Biografie gewidmet. Sie ist reich an Facetten, hat ein verstreutes Quellenmaterial ausgewertet, ist dicht geschrieben, mag freilich auf gespreiztes Bedeutsamkeitsgerede nicht immer verzichten. Besonders abschreckend ein Satz, der sich im Schlußkapitel findet: „Der Bezug auf das eigene Volkstum stellte für Boehm eine ‚Identitätsressource‘ dar, die an der Schnittstelle zwischen individueller und kollektiver Identitäts(vorstellungen) angesiedelt ist bzw. dem subjektiven Wunsch der Harmonisierung beider ‚Sphären‘ von Identität (oder Identitätsempfindung) entsprang.“ Die Fußnoten bieten mannigfache Exkurse und diskutieren im Text aufgeworfene Probleme: ein Verfahren, das an die Konzentration des Lesers hohe Anforderungen stellt. Ein Publikum jenseits der akademischen Gefilde dürfte sich damit nicht gewinnen lassen – was bedauerlich ist, denn die Analyse spannt weite Bögen: vom späten Kaiserreich bis in die Bundesrepublik der 1960er-Jahre, vielleicht der interessanteste Aspekt dabei, wie ein Mann von mittlerem Talent sich relativ unversehrt durch die Fährnisse einer an Brüchen und Katastrophen nicht eben armen Geschichte hindurchhangelte. Boehm schaffte es, irgendwie ‚oben’ zu bleiben. Wirkliche Not hat er – trotz offenkundiger Nähe zum Nationalsozialismus – selbst nach 1945 nicht gelitten. Noch stets fand sich jemand, der ihm auf die Beine half. Das Stichwort, das sein Denken und Trachten prägte, lautet Kontinuität; jedoch, wie Prehn verdeutlicht, unter Zuhilfenahme jeweils opportuner „semantischer Umbauten“ und Camouflagen.

Wesentliche Elemente waren, resümiert der Autor, Boehms „lebenslange Bestrebungen“, Wissenschaft und Praxis zusammen zu bringen, die eigene Arbeit nach Möglichkeit „anwendungsorientiert auszurichten“. Als Schlüsselkategorien figurierten: Volk, Volkstum, Volkgemeinschaft, sämlich Klingelworte in den konservativen bis rechtsradikalen Milieus der Weimarer Republik. Boehm hatte als gebürtiger Baltendeutscher ethnopolitische Spannungen, die sich seit den 1880er-Jahren in den drei russischen Ostseegouvernements kontinuierlich verschärften, gleichsam mit der Muttermilch aufgesogen. Insofern war es kein Zufall, dass noch während des Ersten Weltkriegs die Auslandsdeutschen, dann nach dem militärischen Zusammenbruch die Grenzregionen im Osten und die deutschen Minderheiten in den an Polen abgetretenen Territorien der ehemals preußischen Provinzen Posen, Westpreußen und Oberschlesien in sein Blickfeld rückten. Boehm hielt wenig von Assimilation und gesellschaftlicher Integration im Rahmen der Demokratie, viel jedoch von Dissimilation, von Trennung der verschiedenen, in den Räumen Mittel-, Ost- und Südosteuropas neben- und gegeneinander agierenden Volksgruppen. Erreicht werden sollte dies durch Zuweisung kultureller und politischer Autonomie. Sein Ideal war die ethnisch definierte Volksgemeinschaft, bezogen auf die Landsleute jenseits der Grenzen, ein völkisch fundiertes Minderheitenrecht, überhaupt eine nicht auf den Staat, sondern auf das Volk gegründete europäische Ordnung. Vor 1933 wurde das als Kampfparole gegen die „verhaßte Republik von Weimar“ und das ebenso verhaßte Versailler System genutzt, nach 1933 als Brücke für einen nahtlosen Übergang in die NS-Diktatur.

Was das konkret bedeuten konnte, kam in Boehms Beiträgen zur ‚Judenfrage‘ zum Ausdruck. Den Juden in Deutschland mochte er nicht das Bürgerrecht, sondern nur ein „Gastrecht“ zubilligen. Die Regierung Hitler, schrieb er 1933 in einem Beitrag für den „Ring“, das Organ des „Herrenklubs“, ziele nicht auf „Aufsaugung“, sondern auf „Absondern“. Mit der „Mimikry“, je nach Opportunität „einmal der Minderheit und dann wieder dem Mehrheitsvolk anzugehören“, müsse Schluss sein, zumal die Juden sich in „Schlüsselstellungen des deutschen Volkes hineingedrängt“ hätten. Das lief auf eine Rechtfertigung der unmittelbar nach der Machtergreifung einsetzenden Stigmatisierung, Diskriminierung und Exklusion hinaus. Zynisch mutet an, was Boehm den Betroffenen am Ende seines Artikels zurief: „Könnt und wollt ihr euch als eine Volksgruppe eigenen Stammes und eigener Art vom deutschen Volk trennen?“ Diese Position unterstrich er noch einmal 1934, ein Jahr vor der Verabschiedung der Nürnberger Rassegesetze, selbige antizipierend: „Die reinen Naturgesetze und Gattungsinstinkte der in unserem Volk vorherrschenden Rassen konnten die Vermischung mit den jüdischen Rassebestandteilen nicht verhindern.“ Erst jetzt habe sich „elementar eine neue Volksauffassung“ Bahn gebrochen, die das „Volkstum auch in seinen geistigen Äußerungen von seiner Blutgrundlage abhängig“ wisse, „die Mischung mit fremdem Blut als Rassenschande“ erkenne und brandmarke, dabei bestrebt, den „artgetreuen Grundbestand des eigenen Volkes gegen Mischlinge und fremde durch soziale Absperrungsmaßnahmen“ abzuschotten.

Das war der Sprache des „Dritten Reichs“ ebenso wenig fern wie den Taten seiner Funktionseliten. Insofern überrascht es nicht, dass Boehm für seine 1932 als Buch herausgebrachten Bemühungen um eine „volkstheoretische“ Basis von „Ethnopolitik und Geisteswissenschaften“ die Ernte einfahren konnte: Im Oktober 1933 wurde er auf einen eigens für ihn zugeschnittenen Lehrstuhl für Volkstumstheorie und Volkstumssoziologie an der Universität Jena berufen. Ulrich Prehn widmet der Lehre, den Forschungen und den mannigfachen Winkelzügen als Politikberater, auch Boehms Versuchen, sich gegen Kritik und Widerstände aus den verschiedensten Lagern des Regimes zu behaupten, intensiv recherchierte Kapitel. Sie gehören zu den spannendsten seiner Studie.

Nicht minder aufschlussreich sind die Passagen, die Licht auf die letzten Etappen des Protagonisten werfen. 1945 schien es zunächst, als sei das „Lebenswerk in Trümmern“; er verlor die Professur in Jena, ernsthafte akademische Alternativen boten sich nicht, aber bald schon bewährten sich alte und neue Netzwerke. Bedeutende Gönner verwandten sich für ihn, der prominenteste unter ihnen war Bundespräsident Heuß. Die Entnazifizierung endete mit einem überaus barmherzigen Ergebnis, die Universität Göttingen emeritierte ihn, was hieß, dass Boehm mit den daraus erwachsenen Pensionsbezügen wieder auf finanziell solide Füße kam. Seine Nähe zum Nationalsozialismus spielte offenkundig keine Rolle, im Gegenteil, Differenzen und Konflikte mit rivalisierenden Kollegen und Funktionären vor 1945 lieferten das Material für Strategien der Selbstentschuldung nach 1945.

Mittelpunkt seiner Existenz wurde Lüneburg, wo er sich der „Ehrenrettung“ der „Deutschtumsbewegung“ aus der Zwischenkriegszeit verschrieb. Seine Ordnungsentwürfe unterlagen nun einem Prozess allmählicher Deradikalisierung, passten sich ein in das herrschende Klima der frühen Bundesrepublik. Die institutionelle Basis dafür lieferten die „Nordostdeutsche Akademie“ und das „Nordostdeutsche Kulturwerk“, deren Arbeiten, bestehend aus Forschung und Erwachsenenbildung, weitgehend aus Bundesmitteln bestritten wurden. Stoßrichtung war der aus früheren Epochen vertraute Antibolschewismus, angereichert mit Revisionsforderungen im Blick auf die verlorenen Ostgebiete, mit ideologischer Ertüchtigung und wissenschaftlicher Legitimation der Vertriebenenverbände. Er habe sich, bekannte Boehm 1964, von der „Sorge um das verratene und vergessene Preußen“ leiten lassen, dessen „geistige Erneuerung“ ihm ein Herzensbedürfnis gewesen sei. Allein, parallel zur Konsolidierung und kulturellen Öffnung der Bundesrepublik traf dies auf nur mehr geringe Resonanz. Die Zeiten einer volkstumspolitisch und völkisch grundierten Soziologie waren unwiderruflich vorbei.

Titelbild

Ulrich Prehn: Max Hildebert Boehm. Radikales Ordnungsdenken vom Ersten Weltkrieg bis in die Bundesrepublik.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
576 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783835313040

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch