Die Welle Baudelaire

Roberto Calasso führt den Leser in das Zweite Kaiserreich und wird von der Strömung des französischen Dichters mitgerissen

Von Jens PriwitzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Priwitzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Glücklich kann sich der Leser schätzen, der bei diesem Buch eine Hausbibliothek konsultieren kann. Denn so mancher Gedanke, den der vorliegende Essay nur anreißt, könnte sich so leicht vertiefen lassen. In „Der Traum Baudelaires“ richtet der italienische Kritiker Roberto Calasso den Blick auf den Dichter – und erkennt, dass seine Schwingungen eine ganze Epoche elektrisierten. So stehen in den Bergen und Täler der Baudelaire-Welle „Chateaubriand, Stendhal, Ingres, Delacroix, Sainte-Beuve, Nietzsche, Flaubert, Manet, Degas, Rimbaud, Lautréamont, Mallarmé, Laforgue, Proust und andere“. Sie alle werden von der Welle Baudelaire erfasst, stemmen sich gegen sie, werden für einen Moment oder Jahre mit ihr fortgerissen, bis sie wieder freigelassen werden. Und so folgt Calasso Baudelaire nicht nur durch die Salons und in die Bildwelten des Zweiten Kaiserreichs, sondern wirft auch einen Blick in die Ateliers und Schreibstuben seiner Zeit, berichtet von monomanischen Malern wie Jean-Auguste-Dominique Ingres und modernen Künstlern wie Edgar Degas. Bis nach Kamtschatka, zumindest ein imaginäres, wird den Leser diese Reise führen.

Beim Durchgang der Baudelaire-Welle kommt es dem Essay zugute, dass sein Verfasser selbst von Literatur und Kultur aufgeladen ist wie kaum ein Zweiter. Der Leiter des italienischen Adelphi-Verlages arbeitet und lebt in der literarischen Welt, ist selbst erfolgreicher Buch-Autor. „Der Traum Baudelaires“ setzt auch seine frühere Arbeit über „Die Literatur und die Götter“ fort. Hier tauchte der französische Dichter bereits als Vertreter einer absoluten Literatur auf, in welcher allein der göttliche Mythos – Sinnbild der Romantik – überdauerte. Indem der italienische Essayist, sprachmächtiger Kulturkritiker und feinsinniger Philosoph gleichermaßen, Baudelaire zum Zentrum seiner Betrachtungen macht, kann er zugleich die feinen Korrespondenzen mit den Zeitgenossen, aber auch mit Vor- und Nachgängern aufzeigen.

Die elektrisierende Wirkung der Allegorie

Die Baudelaire’sche „correspondance“ begreift Calasso als Teil einer metaphysischen Analogie, von der der Dichter überzeugt war. In einem Brief an Alphonse Toussenel, Schriftsteller, Journalist und zeitweise Herausgeber der Zeitschrift „La Paix“, aber auch einer der ersten Antisemiten mit rassebiologischen Überzeugungen, schreibt Baudelaire im Januar 1856: „Die Einbildungskraft ist das wissenschaftlichste Vermögen des Menschen, weil sie allein die universale Analogie oder das, was eine mystische Religion die Korrespondenz nennt, begreift“. Von hier ist es nur ein kurzer Schritt zur Allegorie, die die Dichtung Baudelaires auch noch mehr als ein Jahrhundert später so elektrisiert. Zumindest in den präzisen und verdichteten Formulierungen einzelner Verse und kurzer Prosa-Passagen. Weniger in der Gesamtkonzeption eines großen Romans, den Baudelaire, so Calasso, zum Glück nie geschrieben hat.

Deshalb also die Konzentration auf die kurzen Texte Baudelaires, vor allem auf seine Briefe und kunstkritischen Betrachtungen, aber auch auf seine Lyrik und ein paar Passagen Prosa. Etwas irritierend ist die Praxis des Hanser-Verlages, die Gedichte Baudelaires nur auf Französisch abzudrucken. Kein Untertitel als Zugeständnis an den Leser, der nicht der Sprache mächtig ist. Man kann dies freundlich deuten: als Einverständnis der Baudelaire-Leser, dass die Verse des großen Dichters nicht ohne Verlust übertragbar seien, oder der geneigte Leser die Zeilen mithilfe eines Wörterbuches selbst ins Deutsche setzen kann. Man könnte aber auch behaupten, der Verlag hätte hier eine Chance vertan, mehr Menschen für das Buch, das Thema und den Autor zu interessieren. Aber auch wer kein Französisch versteht – zumindest dem Wellengang der Baudelaire’schen Formulierungen in seinem Kopf kann man sich erschöpfend hingeben.

Gibt es ein Welle Baudelaire? Calasso zeichnet sie nach und wird von ihr selbst mitgerissen. Nirgends hält er lange inne, um einen Gedanken systematisch zu vertiefen. Ständig drängt ihn der Essay vorwärts, zieht ihn von der Biografie Baudelaires zur Kunstgeschichte und Ingres, zurück zu Baudelaire, um dann über Manet und Degas zur Literaturgeschichte mit Rimbaud und Mallarmé zu gelangen. „Der Traum Baudelaires“ entpuppt sich in seiner eigenen Wellenhaftigkeit als ein leichtfüßiges Schwergewicht. Leichtfüßig, weil Roberto Calasso eine so zarte Feder schwingt, dass der Leser Lust hat, sich in den Seiten des Essays zu versenken, und bereitwillig einer stilistischen Pirouette nach der anderen zu folgen. Schwergewicht, da das Buch sich nicht weniger vornimmt, als den geistigen Horizont der Epoche Baudelaires und seiner Zeitgenossen auszumessen, und dabei Kunstkritik und Literatur, Philosophie und Metaphysik gleichermaßen zur Kenntnis nimmt. Calasso gelingt mit seinem Großessay gleich zweierlei: Seine Wellen erhellen die geistigen Strömungen des Zweiten Kaiserreichs, während der Autor dem Leser zu einem vergnüglichen Ritt auf ihnen verhilft.

Titelbild

Roberto Calasso: Der Traum Baudelaires.
Übersetzt aus dem Italienischen von Reimar Klein.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
495 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783446239982

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