Die Fleischerei des Lebens

In „Königreich der Schatten“ erzählt Michael Stavaric eine Parallelgeschichte, in der sich Fleischhauerei und Kriegsgräuel begegnen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vegetarier und Veganer halten zurzeit die kulturelle Hoheit über dem Esstisch. In jüngster Zeit wenden sich gleich mehrfach Bücher von Prominenten gegen den Verzehr von Tieren – oft gut gemeint, manchmal sogar gut gemacht. Wenn Michael Stavaric nun ein schwarzhumoriges Buch über zwei Menschen aus der Metzgereibranche vorlegt, so steckt darin auch ein Quantum Provokation. Das Titelcover verdeutlicht es. „The Power of Books“ ist die Fotografie betitelt, die einen Leser zeigt, dem hinter dem aufgeschlagenen Buch förmlich der Kopf zerplatzt. Auch im Buch tropft und strömt viel Blut.

Da ist einmal Rosie Schmieg, ein Wiener Mädchen, das an der Hand seiner Mutter bei der Metzgerei Schlingel vorbeischaut – täglich, immer wieder. Als junge Frau löst sie den Griff und macht sich selbständig. Sie reist nach Leipzig und findet hier ihr Glück. Zuerst besucht sie an der Internationalen Fleischereifachmesse einen Vortrag über eine Antirutschgummimatte für die Handschlachtung, dann stösst sie auf die kleine Metzgerei Schlitz. Beim Patron beginnt sie eine Lehre und übernimmt nach dessen baldigem Ableben das Geschäft.

In New York wächst derweil der in einer Sturmnacht geborene, mit lebhafter Fantasie begabte Danny Loket auf. Sein Großvater stammt aus dem böhmischen Simtany, wo er Fleischer war. Nach seiner Emigration besaß er auch in New York eine kleine Fleischerei, sein Sohn aber wählte ein anderes Gewerbe. Deshalb bleibt es dem Enkel vorbehalten, die Sehnsucht nach dem alten Gewerbe und der heimatlichen Sprache zu pflegen. Als in New York die Katastrophe ausbricht und apokalyptische Gerüchte umgehen – wahrhaftig oder im Geist des Helden – flieht Danny nach Europa. In Leipzig trifft er Rosie auf der Antirutschgummimatte – und rutscht mir ihr aus.

Auch wenn in diesem Roman Fleisch geschlachtet, zubereitet und gegessen wird – insgeheim führt dennoch ein Vegetarier Regie. Adolf Hitler schwebt als Geist durch dessen Seiten und weitet das Fleischliche ins Allegorische. Nicht nur Tiere werden geschlachtet, auch Menschen. Kriege verschlingen Millionen von Opfern, Seuchen und Strahlen fordern ihren Tribut. Großvater Loket vermachte seinem Enkel ein kleines Archiv: Erinnerungen an die 50 Nazis, die er 1945 als US-Soldat erlegt hatte. Darunter auch den Frontbrief an eine gewisse Annemarie Schmieg, von ihrem Gemahl unterzeichnet. „Ich beschäftige mich mit Plänen für die Zukunft, das Artilleriefeuer kann mich davon nicht abbringen.“

Michael Stavaric erzählt in seinem Roman die Parallelgeschichte von zwei Enkeln, deren Großväter in den letzten Kriegswochen aufeinander trafen – mit dem besseren Ende für den Alliierten. Beide verband das Fleischerhandwerk in doppeltem Sinn. Während in der Familie des (böhmischen) Amerikaners die Nazis wie alte böse Geister umgehen, bleibt „Mein Kampf“ bis auf Weiteres das einzige Buch, das in der Wiener Familie Schmieg je gelesen und aufbewahrt wurde.

Begleitet von illustrierenden Zeichnungen der Künstlerin Mari Otberg pendelt Michael Stavaric seine Romanhandlung zwischen Fantasmagorie und Farce aus. Das liest sich manchmal witzig und boshaft schräg, insgesamt aber lässt Michael Stavaric seine Leserschaft im Ungewissen darüber, welche tiefere Bedeutung sein Buch anvisiert. Die Parallelführung von Fleischerhauerei und Kriegsgräuel wirkt nicht ungefährlich vereinfachend, ja banalisierend. Ist es das, was der Metzger Schlingel einmal sagte: „Erst Fleisch habe den Menschen zu dem gemacht, was er heute ist“? Wäre es so, dann reihte sich auch Stavaric hinterrücks in den Chor der Veganer und Vegetarier ein. Sein Buch hinterlässt seine Leser dennoch mit einem leisen Gefühl der Ratlosigkeit und Skepsis.

Titelbild

Michael Stavaric: Königreich der Schatten. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
250 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406653896

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