Ungarn für Anfänger?

„Das letzte Polaroid“ ist Nina Sahms Debüt als Prosaschriftstellerin

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anna ist 14 und Einzelkind einer Architektin und eines Arztes aus München. Das Leben der übervorsichtigen Brettspielfamilie wird von Desinfektionstüchern, Zahnpflegekaugummis, einem Handstaubsauger und bohrenden Quizfragen geprägt. Während des Sommerurlaubs am ungarischen Plattensee trifft Anna auf die fast gleichaltrige Kinga aus Budapest, die ihr die freche Freiheit eines Teenagers vorlebt. Fastfood, Wonderbra, Aprikosenschnaps, Disco und der Sohn des Tretbootverleihers – Kinga reißt Anna trotz aller Verbote der Eltern im Nu mit. In ein paar Tagen entsteht eine Mädchenfreundschaft, die durch einen intensiven intimen Briefwechsel über Jahre hält. Kinga erlebt täglich mehr als Anna in einem Monat, beschreibt eine Affäre nach der anderen, bis sie ihr detailliert darlegt, warum sie mit Tibor den Richtigen gefunden zu haben scheint. Anna hingegen trifft sich nur mit dem Arztsohn aus der Nachbarschaft, sieht zu wie ihre Eltern sich trennen und beginnt, entgegen deren Wunsch, statt eines Medizinstudiums eine Bäckerlehre.

Als Kinga nach einem Autounfall im Koma liegt, verlässt Anna München und reist auf unbestimmte Zeit nach Budapest, wo sie als nun 24-Jährige in Kingas Zimmer bei deren Eltern unterkommt. Sie lebt sich in Budapest ein und macht sich die ungarische Sprache zu eigen –mehr und mehr schlüpft sie in die Rolle ihrer Freundin. Trotz der Berufsverbote für Journalisten, dem Rechtsruck und der Wirtschaftskrise in Ungarn lebt Anna auf und genießt ihr freies Leben. Bald fühlt sie sich als Familienmitglied und intensiviert den Kontakt mit Tibor, über den sie ja aus Kingas Briefen alles weiß.

Nina Sahm beschreibt sehr gefühlvoll, wie leicht sich ein stets beschütztes, in einer gefühlskalten, sterilen Umgebung aufgewachsenes Mädchen vom Leben infizieren lässt. Als Kontrast zum durchorganisierten deutschen Alltag schildert die Autorin Ungarn als lebensfrohes, pulsierendes Land mit kulinarischen und touristischen Leckerbissen. Selbst die schwere ungarische Sprache lernt Anna langsam vor den Augen des Lesers.

Die Zeit, die Anna bei und mit Kingas Eltern verbringt, während deren Tochter verlassen im Krankenhaus im Koma liegt, plätschert allerdings so seicht dahin wie der Sommer der Mädchen am Balaton. Die schwere politische und wirtschaftliche Lage in Ungarn wird unreflektiert und ohne jede Tiefe nur im Vorbeigehen gestreift. Kingas Vater hat der politische Umschwung seinen Job gekostet und Tibors Vater – ein kritischer Journalist – ist seither verschwunden. Aber Anna verfällt der Dobostorte und verschafft dem Café, in dem sie bald arbeiten darf, mit ihrer Mirabellentorte ein Alleinstellungsmerkmal. In der Stadt wird demonstriert und im Thermalbad Schach gespielt. Sie lernt die Freunde und Bekannten ihrer Gastgeber kennen, fügt sich täglich mehr – aber unspektakulär – in den ungarischen Alltag ein.

Die Polaroid-Aufnahmen, im Sommer zehn Jahre zuvor noch ein Ereignis, bekommen einen nostalgischen Touch. Die Erinnerungen an die wilde, vor Ideen sprühende Kinga allein reichen nicht mehr aus, dem Roman Leben einzuhauchen, wäre da nicht dieser geniale Schluss, der den Leser doch noch ergreift und zum Nachdenken bringt.

Literarisch und sprachlich lässt der Roman das Besondere vermissen. Die Idee, in die Rolle eines langjährigen Vorbilds zu schlüpfen, sich von den Zwängen der eigenen Familie zu lösen und in einem fremden Land exotische Erfahrungen zu machen, vermag aber durchaus zu unterhalten. Ungarnliebhaber oder -reisende werden ihren Spaß haben und vieles wiederentdecken. Nur die Hintergründe bleiben unklar und unausgesprochen.

Titelbild

Nina Sahm: Das letzte Polaroid. Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2014.
239 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783351050085

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch