Auf der Suche nach der Seele

In Leopold Federmairs „Die großen und die kleinen Brüder. Japanische Betrachtungen“ überlegt ein Sprachlehrer, ob er sich in Japan wirklich wohlfühlt

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leopold Federmair lebt seit elf Jahren als Deutschdozent in Japan. „Die großen und die kleinen Brüder. Japanische Betrachtungen“ kommentiert seinen Eindruck von verschiedenen Städten, vom Alltagsleben, von Besonderheiten der zwischenmenschlichen Beziehungen, von Kneipenbesuchen, Treffen mit Bekannten, von Leseerfahrungen sowie von Hiroshima und Fukushima. In siebzehn Kapiteln gibt Federmair Reiseimpressionen, Gespräche, Literarisches, Bemerkenswertes und Marginales wieder, um aus der Perspektive des ethnographischen Flaneurs einen mosaikartigen Bericht seiner Japanerfahrungen vorzulegen. Locker reihen sich die einzelnen Szenen aneinander, manches Mal vielleicht zu sprunghaft, doch die Leitthematik tritt klar hervor: Es geht um eine immense Anpassungsleistung bis hin zur zeitweisen Selbstverleugnung und um den Versuch, einen Modus zu finden, in dem das Leben in der Fremde gelingt.

Dieser Modus ist die dichterische Haltung, die Hinwendung zur Literatur als einer Leidenschaft, mit der nicht nur das berufliche Dasein als Literaturwissenschaftler eine höhere Bedeutung erhält, sondern auch die persönliche Sphäre des Beobachtens aus den Augen des Fremden zu einer poetischen Erlebniszone erklärt werden kann. Der Rückzug auf diese innere Insel erlaubt es, Momente der Ausgrenzung zu überwinden. Als „Sehender“, der sich in Texten zu seinen Erfahrungen äußert, ist der Autor nicht nur zur schweigenden Fügsamkeit verurteilt, die die Gastgesellschaft ihren Mitgliedern und ihm offenbar abverlangt.

Mit „Sehen“ und „Schweigen“ sind zugleich zwei Nebenmotive des Textes benannt; diese Bereiche verweisen wiederum auf eine andere Ebene, die „Die großen und die kleinen Brüder“ adressiert, nämlich die der Machtverhältnisse: In das Blickfeld anderer zu rücken, heißt, einen Status und eine Rolle zugeteilt zu bekommen. Der Verfasser versucht sich selbst gegenüber den „großen Brüdern“, zu behaupten, die etwa aus der Riege der Universitätsprofessoren kommen. Er, in diesem Fall der „kleine Bruder“, ist stets um Anpassung an das Kollektiv bemüht und möchte die Seele seiner japanischen Mitmenschen erkunden.

Andersartigkeiten

Dass Japan „anders“ ist, besser gesagt, eine japanische Sozialisation Unterschiede zu einer westlichen aufweist, dürfte eine Binsenweisheit sein. Federmair ergeht sich bei seinen Schilderungen nicht in vordergründigen Exotismen, er überdenkt die Dinge sorgfältig, sein Abwägen wirkt ehrlich. Ein paar Feststellungen lassen mehr Rückschlüsse auf den Verfasser zu als auf einen repräsentativen japanischen Durchschnitt, doch intendiert er auch keine emotionsfreie, politisch korrekte Wertung. Ihm genügt die subjektive Aufzeichnung eines Individuums, das sich bemüht, in seiner Umwelt zurechtzukommen.

Der Vater einer kleinen Tochter, für die er sich nach guten Kindergartenkonzepten erkundigt, hat den Eindruck gewonnen, die japanische Gesellschaft sei „restriktiv“, „quasi-militärisch“ und „freiheitsberaubend“. Ämter, Büros und Schulen besäßen kasernenhaften Charakter. Zu wenige junge Menschen gebe es hier, zu wenig Liebe, zu wenig Spaß. Etwas Einengendes, Bedrückendes liegt seiner Wahrnehmung nach in der Luft, bereits vor „Fukushima“. In prekären Zeltstädten wohnen Arbeitslose, die nicht mehr nach Hause zurückkehren wollen, aus Angst vor dem Druck, den die Familie auf sie ausübt. Männer- und Frauenwelten bleiben strikt getrennt, patriarchalische Strukturen werden von Macht- und Dominanzstreben geleitet. Der Autor hat das alles im Blick und meint, „eigentlich gibt es hier überhaupt nichts, was ich hassen müßte, abgesehen vom System“.

Von Zeit zu Zeit gönnt sich der sanfte Federmair einen Wutausbruch. Zumindest gedanklich. Mehr lässt sein Beschäftigungsverhältnis nicht zu. Dann erhalten die Arbeitgeber – die japanischen Universitätsprofessoren – eine saftige Abreibung: „Machtmacher, ehrenwerte Herren, ihr könnt uns mal!“, heißt es angesichts eines geringschätzigen professoralen Werturteils in Bezug auf einen Literaturfan. Für ihn sind die Liebhaber von Literatur, zu denen er sich freimütig zählt, authentischer als alle akademischen Profis und geschäftstüchtigen Kritiker.

Noch essenzieller als der durchaus nachvollziehbare Tadel an arrogant auftretenden Professoren, die wie gereizte Stiere gegen zu enge Gatter rempeln, fällt eine humanpsychologische Vermutung aus, die der Autor im Zusammenhang mit der viel zitierten japanischen Höflichkeit und dem Brauch der öffentlich praktizierten Entschuldigung äußert. Eine in Japan aufgewachsene Person, so die hier erwähnte chinesische Auffassung, würde niemals etwas aus „tiefster Seele“ fühlen. Sollte sie doch so fühlen, kenne sie „keine Möglichkeit, ihrem Gefühl Ausdruck zu geben“. Ein erschreckender, ja tragischer Befund.

Federmair stellt die These von der japanischen Gefühlsarmut wenige Male anhand von Fallbeispielen zur Diskussion: Eine Mutter von zwei Kindern erkrankt an Krebs, bricht sich im Krankenhaus die Hüfte, der Mann kommt erst nach zwei Tagen zu ihr, die Kinder suchten sie kurz vor ihrem Tod noch einmal auf. Kein Wunder, dass der Autor nach der „Herzensbildung“ der Leute fragt.

Japanische „Schweigekultur“ als Kalkül und Kulisse

Ambivalent zeigt er sich im Hinblick auf die vom missmutigen Germanistikprofessor behauptete und andernorts registrierte japanische Sprachmeidung, über die er an verschiedener Stelle kein endgültiges Urteil fällt. Er spürt, dass dem Schweigegebot ein Machtgestus anhaftet: Der, der Schweigen verordnet, ist der Überlegene. Der Gesprächssuchende bleibt ein in Stummheit Suspendierter, andauernd im Ungewissen gelassen und damit beherrschbarer als der Dialogpartner, der widerspricht.

Angenehm mag das Schweigen sein, wenn keiner etwas vom anderen verlangt, wenn die Verträge unterschrieben sind und die Zeche bezahlt ist. Dann ist es eine schöne Tugend, die man gerne pflegt, zum Beispiel als Selbstexotisierung in Gegenwart eines minder privilegierten westlichen Publikums oder einfach deshalb, weil einem nichts sonderlich Geistreiches mehr einfällt. Jeder hat schließlich sein Repertoire, man braucht nur neue Hörer für eine alte Schallplatte.

Dass die Begegnung im Ungewissen, wie sie die Kneipen und ihre mitternächtlichen Séancen bieten, nicht nur Freude bereitet, ahnt der Berichtende, als er in der von ihm häufiger aufgesuchten Kneipe Showten auf Keiko trifft. Sie führt ihn ins Werk von Dazai Osamu ein, einen Autor, der mit 39 Jahren Selbstmord beging, nachdem Alkohol und Morphium ihm nicht mehr helfen konnten. Die Frau zieht ihn, so sein Eindruck, in einen „unsichtbaren magischen Raum“, doch Federmair widersteht tapfer.

Bei einem folgenden Besuch erzählt ihm der Wirt, Keiko trinke nun viel mehr. Der Lektor blockt diese Anspielung ab, wohl weil er sich seiner Familie und vor allem der eigenen Hypersensibilität bewusst ist, die ihm ab und an einen Schwächeanfall beschert. Soll er denn die Frau in ihrem Unglück retten, sie von ihrer „konsequenten, nachhaltigen Selbstzerstörung“ abhalten? Weise denkt er „Nein!“, schweigt und sucht eilends das Weite, womit er sich wahrscheinlich viel erspart hat: Es ist besser, die japanischen Hungergeister zu meiden, sich nicht in ihre Welt der Gefühlskopien zu begeben, mag diese auch anfangs verführerisch erscheinen.

Ethnographisch-autotherapeutische Notizen

Vielleicht sind Federmairs „Betrachtungen“ als ethnographische Autotherapie einzuordnen. Möglicherweise zwingt ihn gerade die „Schweigekultur“ zur schriftlichen Äußerung. Der Akt des Schreibens hilft dem Lektor, in seiner Isolation zu bestehen. Er klammert sich an Heft und Stift und setzt dem, was man ihm verschweigt, seine Buchstaben entgegen. Als Schreibender kann er sich geborgen fühlen in der Gemeinschaft der Schriftsteller, somit dient die Literatur als Rettungsanker; sie gewährt Zuflucht in einer Welt, in der sich der geisteswissenschaftlich Gebildete als Arbeitskraft auf dem globalen Markt zu verdingen hat. Das Leben in der Internationalität, das Federmair entwirft, besitzt nicht nur positive Eigenschaften, sondern deutet auch auf eine erzwungene Heimatlosigkeit und auf Heimatflucht hin.

Die „Betrachtungen“ lassen sich zudem als Schlüsseltext lesen, der für den Eingeweihten amüsante Entdeckungen bereithält. Stößt man also durch Zufall auf diese Japannotizen, vermögen sie vieles mitzuteilen, was die „Schweigekultur“ nicht preisgibt. Tatsächlich handelt es sich bei den beschriebenen Figuren um Personen mit großem Wiedererkennungswert. Einige tragen einen fiktiven Namen, andere treten als sie selbst auf, etwa der österreichische Dichter und Übersetzer Erwin Einzinger, den der Literaturwissenschaftler im November 2011 als Exeget auf dem alljährlich stattfindenden Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur im Thermalkurort Nozawa Onsen begleitete.

Am stärksten erweist sich die langjährige Anpassung an das Gastland in Federmairs Wahrnehmung von „Fukushima“. Der Dreifachkatastrophe wird nur ein verhältnismäßig kleiner Raum gewidmet, man versucht die atomaren Gefahren zu ignorieren, um weitermachen zu können.

Die Quintessenz des Beobachters ist, dass es in Japan eigentlich darum geht, den Schein zu wahren, während der einzelne innerhalb der Lebenssimulationen mit wechselnden Statisten für sich erkannt hat, dass alle Kommunikation vergeblich sei und man letzen Endes alleine bleibe. Um ein wenig Hoffnung zu generieren, enden die „Betrachtungen“ mit der freundlichen Geste einer jungen Friseurin. Sie wischt den nassen Fahrradsattel ab, bevor der Autor sein Rad besteigt und durch den möglicherweise radioaktiv belasteten Regen fährt. Er sagt sich selbst, dass er sich wohl fühle. Bis zum nächsten Schwächeanfall.

Titelbild

Leopold Federmair: Die großen und die kleinen Brüder. Japanische Betrachtungen.
Klever Verlag, Wien 2013.
248 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783902665645

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