Sie lassen ihn nicht allein

Neue Annäherungen an Max Herrmann-Neiße

Von Jan BehrsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Behrs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich mit dem Dichter Max Herrmann aus Neiße wissenschaftlich beschäftigen möchte, stößt auf eine ungewöhnliche Forschungslage: Obwohl dieser Autor nie vergessen war und im Laufe der Zeit viel Energie in sein Werk investiert wurde (so liegt bereits seit den 1980er-Jahren eine prachtvolle zehnbändige Lese- und Werkausgabe vor), existiert bisher keine kontinuierliche Herrmann-Neiße-Forschung, die einen stabilen Rahmen für die Kommunikation über Dichter und Werk bereitstellt. So müssen auch die Teilnehmer der 2011 am Max-Herrmann-Neiße-Institut in Düsseldorf abgehaltenen Tagung, deren Ergebnisse hier dokumentiert werden, zwar nicht bei Null anfangen, aber doch in vielerlei Hinsicht Grundlagenarbeit leisten. Dazu gehört auch die Verständigung darüber, welche Anschlussmöglichkeiten dieser Schriftsteller überhaupt bietet: Ist sein Werk vor allem für eine regionale Literaturgeschichte Schlesiens von Interesse? Handelt es sich um einen Expressionisten, einen Dadaisten, einen prototypischen Exilschriftsteller? Die Herausgeberin Sibylle Schönborn versucht, die Vielschichtigkeit Herrmann-Neißes positiv zu fassen, indem sie „die Gleichzeitigkeit heteronomer, sich widersprechender Diskurse, ästhetischer und poetischer Konzepte und Stile“ als besonderes Faszinosum ausmacht. Dem ist sicherlich zuzustimmen; gleichzeitig scheint es aber gerade das heute faszinierende „Nebeneinander“ bei Herrmann-Neiße zu sein, das die Rezeption bisher hemmte: Zu schnell ist bei einem Autor, der sich in jedem Epochenstil geübt hat und der vom entrückten Seher à la Stefan George bis zum selbstironisch seine Behinderung thematisierenden Bürgerschreck eine Vielzahl von Dichter- und sonstigen Rollen eingenommen hat, der Vorwurf des Epigonentums zur Hand. Ein derart elegant seine Affiliationen in Frage stellender, stets Distanz zu vermeintlichen Bündnisgenossen markierender Charakter wie Herrmann-Neiße kann gemäß einer schlichten, aber verbreiteten Denkweise, die in der Literatur auf Authentizität und leichte Klassifizierbarkeit setzt, kein wirklich großer Dichter sein.

Um diesem Vorurteil entgegenzuwirken, muss zunächst ein möglichst großes Textkorpus allgemein zugänglich gemacht werden. Hier gibt es trotz der erwähnten Werkausgabe noch viel zu tun. Deren Herausgeber Klaus Völker berichtet über seine Edition der Briefe Herrmann-Neißes, die sich schon optisch mit den von Johannes Grützke entworfenen Umschlägen als Ergänzung und Vervollständigung der seinerzeit erschienenen Werke zu erkennen gibt. Sie umfasst keine Gegenbriefe, was editorisch nachvollziehbar, aber angesichts der illustren Briefpartner Herrmann-Neißes dennoch bedauerlich ist: Detlef Haberland gibt in seinem Beitrag eine Übersicht über den beeindruckenden Teilnachlass in der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne, der überwiegend aus Briefen besteht. Es ist sehr zu vermuten, dass die bisher kaum erfolgte Auswertung dieses Bestandes, der unter anderem Briefe von Theodor Däubler, Hermann Hesse, Kurt Hiller, Alfred Kerr, Else Lasker-Schüler sowie Heinrich, Klaus und Thomas Mann enthält, weitere Aufschlüsse über die Stellung Herrmann-Neißes im Kulturbetrieb der Weimarer Republik ermöglichen würde.

Dies ist nicht die einzige Erschließungslücke, die auf der Tagung thematisiert wurde: Mehrere Beiträgerinnen und Beiträger stellen Texte in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen, die in der Völkerschen Werkausgabe nicht zu finden sind. Dies sind etwa die frühen Rezensionen in der „Neißer Zeitung“ aus dem Zeitraum von 1909 bis 1914, in denen Beata Giblak das Selbstverständnis und die ästhetischen Positionen des noch unbekannten Dichters bereits in nuce ausgebildet findet, und sein Buch über Émile Zola von 1925, das Arturo Larcati als zentralen Bestandteil von Herrmann-Neißes Bemühungen um eine antibürgerliche, proletarische Literatur interpretiert. Diese nicht ganz unbeträchtlichen Lücken können die Bedeutung von Völkers Edition nicht mindern, dürften aber einen Impuls zur derzeit am Max-Herrmann-Neiße-Institut entstehenden kritischen Ausgabe gegeben haben. Über dieses Projekt erfährt man im Tagungsband leider gar nichts, was bedauerlich ist: Was könnte das Interesse an einem Autor besser dokumentieren und anfachen als eine neue Werkausgabe?

Während also auf der einen Seite an einer Verbreiterung der Materialbasis gearbeitet wird (und es scheint, als ob in den nächsten Jahren noch viele bahnbrechende Funde zu erwarten sind), beschäftigen sich andere Beiträger mit der Interpretation bereits bekannter Texte. Hervorzuheben ist hier der Aufsatz von Jürgen Joachimsthaler, der sich der im Band sonst unterrepräsentierten Prosa widmet. Mit einer beeindruckenden Menge von Belegen wird das spezifisch „nicht-identische“ Schreiben Herrmann-Neißes anschaulich gemacht: Seine Figuren „trennt eine merkwürdige Uneigentlichkeit von ihrem eigenen Leben, als spielten die Menschen nur, was sie zu sein behaupten“. Ob man diese Uneigentlichkeit und ihre spezifische sprachliche Ausprägung aufgrund der Physis des Autors als „buckliges Schreiben“ bezeichnen muss, sei dahingestellt; die Aufdeckung eines wesentlichen „darstellungsästhetischen Prinzips“ bleibt eine für weitere Untersuchungen anschlussfähige Leistung. Dies gilt auch für Walter Fähnders’ Versuch, Herrmann-Neiße stärker als bisher üblich als linkskommunistischen Autor herauszustellen. Diese Vorgehensweise trägt auch zur Klärung der Frage bei, warum der Autor – wie eingangs erwähnt – inkompatibel mit der gängigen Epocheneinteilung der Germanistik zu sein scheint: Was dem bürgerlichen Literaturbetrieb, der klare Kriterien zur Erkennung von Expressionismus, Dadaismus und dergleichen hat, recht ist, muss einer linksradikalen, an der Etablierung eines proletarischen Kanons interessierten Literatur nicht billig sein.

Dass neben der Einordnung in größere politische Zusammenhänge auch eine eher kleinteilige Gedichtanalyse fruchtbar sein kann, dürfte angesichts des überdeutlichen, manchmal gespreizt wirkenden Formbewusstseins bei Herrmann-Neiße nicht überraschen. Hans Peter Buohlers Untersuchung eines besonders reizvollen Texts, des Sonettzyklus „Porträte des Provinztheaters“ (1913), ist ein Musterbeispiel einer solchen Analyse: Nachdem mit Schnitzlers „Reigen“ zunächst ein unmittelbar einleuchtendes Vorbild genannt wird, gelingt es mithilfe einer mikrologischen, für weitere intertextuelle Anknüpfungspunkte nicht blinden Untersuchung, die poetologischen Untertöne der Sammlung deutlich herauszuarbeiten.

Dass der Autor sich mit diesen Sonetten in der Theaterwelt, die er beschreibt, unmöglich gemacht hat, ist symptomatisch: Welche Perspektive auch immer man auf sein Werk einnimmt, immer erscheint Herrmann-Neiße als Inbegriff des Außenseiters, wie die Beiträge über Behinderung (Jochen Strobel) und Sexualität (Sibylle Schönborn) in seinem Werk zusätzlich unterstreichen. Diese extrem randständige Position geht einher mit einer intensiven Bezugsnahme auf die Kerngesellschaft, dem Versuch, eine „unerreichbare ‚Normalität‘ zu idealisieren und nachzuahmen“, wie es bei Joachimsthaler heißt. Das ergibt eine eigentümlich altmodische Modernität, die auch für die Zeitgenossen schon ersichtlich war, wie Wojciech Kunicki anhand eines hinreißenden Funds deutlich macht: Gottfried Benn, ein viel modernerer Moderner, trägt in sein Exemplar von Herrmann-Neißes „Verbannung“ (1919) Gegengedichte ein, die die vorgefundenen Anachronismen mit unnachahmlicher Bosheit bloßstellen. Wo Herrmann-Neiße im Gedicht „Sie lassen mich allein“ seinen Außenseiterstatus in durchaus pathetische Worte kleidet („Sie lassen mich allein, wie ich sie stets / allein gelassen“), hat Benn für diese Sentimentalität nur bittere Verachtung übrig: „Sie lassen mich allein zum Lokus gehen / Wer knüpft mir die unselge Hose auf / Ich selbst muß meinen Gasen freien Lauf – / gewähren u. die Wasserleitung drehn“.

Selbst in Avantgardekreisen bleibt, so könnte man sagen, dieser auf spezifisch bürgerliche Weise antibürgerliche Dichter allein, was ihn – die Gesamtheit der hier versammelten Beiträge zeigt es deutlich – umso interessanter macht.

Zum Schluss bleibt eine unerfreuliche Beobachtung zu notieren: Das Lektorat des Bandes lässt sehr zu wünschen übrig. Eine solche Bemerkung mag kleinkariert erscheinen, und in der Tat könnte man über einen „Triumpf“ über die Mutter oder einen im Jahre 1922 gefeierten 90. Goethegeburtstag hinwegsehen. Wenn allerdings der Name des Beiträgers Buohler fast durchgehend, auch im Kolumnentitel, falsch geschrieben wird oder an einer Stelle von einem unverständlich bleibenden „Aufstiegs-/Abstiegsschema franz scher Provenienz“ die Rede ist, schränkt das die Benutzbarkeit eines ansonsten sehr zu lobenden Bandes signifikant ein.

Titelbild

Sibylle Schönborn (Hg.): Exzentrische Moderne: Max Herrmann-Neiße (1886-1941).
Peter Lang Verlag, Pieterlen 2013.
284 Seiten, 72,80 EUR.
ISBN-13: 9783034314084

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