Was hört die Welt?

Auf dem neuen Album seiner Band The Hold Steady, “Teeth Dreams”, zeigt Craig Finn endlich wieder, was für ein großer Songtexter ist

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

„Some nights I think that Sal Paradise was right … girls and boys in America have such a hard time together”. Diese Zeilen eröffnen „Boys and Girls in America”, das dritte Album der amerikanischen Band The Hold Steady, und sie sagen bereits eine Menge über das Thema aus, das Sänger und Texter Craig Finn bevorzugt behandelt: Die Jugend Amerikas, schonungslos beobachtet mit dem Blick eines literaturversierten Songwriters. Das besondere an Finns Texten ist die Perspektive, die immer die der Protagonisten ist, und seine Figuren sind dabei nicht besonders gebildet oder schlau; im Grunde sind sie sogar ziemlich einfältig, perspektivlos und lassen sich durch die endlosen Nächte von Twin Cities treiben, wie man den Verbund der Städte Minneapolis und St. Paul nennt, aus dem Finn selbst stammt. Sie konsumieren Alkohol und Drogen, haben Probleme mit festen Bindungen und wissen meist selbst nicht so recht, was sie da den ganzen Tag tun und reden. Aber Finn weiß es, und sein Portrait der amerikanischen Jugend scheint ebenso erschreckend wie repräsentativ zu sein.

Auf den ersten beiden Alben von The Hold Steady konnten die wenigen, die hinhörten, etwas vernehmen, was es bisher noch nicht gegeben hatte: Da spricht jemand mit der Stimme drogenbenebelter Außenseiter schockierende Geschichten über eine Musik, die bewusst primitiv und hölzern klang, aber trotzdem irgendwie, in bestimmten Momenten, erhaben. Das lag vor allem am filigranen Klavierspiel von Franz Nicolay, der sich ganz genau den Sound von Bruce Springsteens Keyboarder Roy Bittan abgeguckt hatte, jenes perlende Klavier, das auch noch dem stumpfesten Rocksong eine melancholische Note verleihen konnte. „Almost Killed Me“ und „Separation Sunday“ waren Konzeptalben, und sie erzählten Geschichten aus dem Leben dreier Teenager aus Twin Cities, Hallellujah (genannt Holly), Charlemagne und Gideon. Die Namen waren natürlich nicht zufällig gewählt, zumal man sich nur schwerlich vorstellen konnte, dass in den Ghettos von Twin Cities jemand mit diesen Namen herumlaufen würde. Oder vielleicht gerade dort. Holly, Charlemagne und Gideon jedenfalls ziehen durch die Nacht, sie feiern, nehmen billige Drogen, trinken, haben Sex, lassen sich tätowieren, werden verprügelt, verschwinden tagelang: „These parties they start lovely / but they get druggy / and they get ugly / and they get bloody“. Auf „Separation Sunday“ liegt der Schwerpunkt auf der Religion, der Abschluss der Trilogie, „Boys and Girls in America“, fasst alles zusammen. Im ergreifenden „First Night“ wird noch einmal das Ende der Freundschaft beschworen: Holly wird bewusst, dass sie niemals mehr so high werden kann wie am Beginn ihrer Drogenkarriere, also wendet sie sich nach einer Überdosis Jesus zu. Vielleicht stirbt sie auch. „Holly’s unconsolable, she still looks incredible / but very far from the girl that we met on the first night.“ Das am häufigsten verwendete Wort auf dem Album ist übrigens „hospital“, wo irgendwann jeder von Finns Protagonisten landet.

Und trotz allem ist Finns Lyrik nicht zwingend naturalistisch, er überhöht seine Figuren trotz des Kniffs mit den Ich-Erzählern, die es scheinbar nicht besser wissen, und er beobachtet ihre Schicksale mit den Augen eines Literaturbeflissenen. Zwischendurch tauchen immer mal wieder Autoren wie Jack Kerouac, Nelson Algren, Vladimir Nabokov und vor allem John Berryman auf, der in Minneapolis lebte, als er 1972 Selbstmord beging. So verbindet das lyrische Ich in „Stuck Between Stations“ einen Spaziergang mit seiner Freundin über die Washington Avenue Bridge, von der Berryman in den Missississippi sprang, mit einer Erinnerung an den Dichter

The devil and John Berryman
Took a walk together.
They ended up on Washington
Talking to the river.
He said ‚I‘ve surrounded myself with doctors
And deep thinkers.
But big heads with soft bodies
Make for lousy lovers‘

There was that night that we thought John Berryman could fly.
But he didn‘t
So he died.
She said ‚You‘re pretty good with words
But words won‘t save your life‘
And they didn‘t.
So he died.

Besonders deutlich wurde das lyrische Potential jedoch auf dem vierten und wohl besten Album der Band, „Stay Positive“. Wer sich Mühe gibt, entdeckt in den Songs des Albums, die auf den ersten Blick wieder Berichte von – diesmal schon erwachsenen –  Randfiguren der Gesellschaft sind, eine eigene, verborgene Geschichte: Immer wieder tauchen in den Erzählungen zwei tote Jugendliche auf, manche erzählen in einem Nebensatz von einer Kreuzigung, doch nie geht einer der Protagonisten richtig auf die Geschichte ein, sondern erzählt dann weiter von sich. Craig Finn gab zu, dass sich unter der Oberfläche der alltäglichen Erzählungen eine zweite, grausame Geschichte verbirgt, die im überwältigenden Song „One For The Cutters“ angedeutet wird. Für die Band ungewöhnlich instrumentiert, Hauptinstrument ist ein Cembalo, wird die Geschichte einer College-Studentin erzählt, die, typisches Finn-Personal, für ihr Leben gerne Partys besucht. Wie ein Mantra wiederholt der Erzähler immer wieder die Worte „When there weren’t any parties, sometimes she’d party with the townies“ und „They didn’t seem much different“. Gemeint sind die „einfachen“ Dorfjugendlichen, mit ihren Pick-Ups, ihren Bierdosen, dem Crystal Meth, ihrer lauten Musik, mit denen sich die Studierenden des nahe gelegenen Colleges nach US-Tradition in der Regel nicht mischen. Nun besucht das Mädchen aber eine der Partys der Dorfbewohner und denkt sich, dass sie doch gar nicht so anders sind als ihre Mitstudenten. Sie verliebt sich in einen Jungen, doch irgendwann wird dieser verhaftet, sie hört von einem Messer, es muss etwas Schlimmes passiert sein in jener Nacht, die personale Erzählweise zeigt uns jedoch nur die fehlende Reflexionsfähigkeit der Protagonistin. Sie deckt den Jungen und sagt, er habe die Nacht mit ihr verbracht, die Anwälte ihres Vaters übernehmen den Fall. Aber als sie an Weihnachten nach Hause kommt, ist sie verändert und distanziert. Na gut, so die Protagonisten, „they didn’t seem much different“, außer dem bißchen Blut auf dem T-Shirt und den komischen Frisuren, die sie trugen. Dann ist der Song zu Ende. Wir wissen nicht, was passiert ist, doch weitere Andeutungen ziehen sich durch die anderen Songs. Im Nachhinein wirken die zunächst als euphorisch wahrgenommenen Eröffnungszeilen des Albums „Me and my friends are like the drums on ‚Lust for Life‘“ (gemeint sind die euphorisierenden Beats des Iggy-Pop-Songs) und das ständig wiederholte Mantra „We’re gonna build something this summer!“ in Hinblick auf das, was in jenem Sommer wohl wirklich passierte, zynisch.

Nachdem nun The Hold Steady ihren Keyboarder Franz Nicolay verloren und ein sehr schwaches fünftes Album namens „Heaven is Whenever“ folgen ließen, nahm man sich eine Auszeit, Finn veröffentlichte ein ähnlich schwaches Soloalbum und man fürchtete schon, dass er sein Pulver verschossen hatte. Doch „Teeth Dreams“ beweist das Gegenteil. Auch wenn Holly, Charlemagne und Gideon aus den Texten Finns verschwunden sind, werden diese immer noch von ähnlichen Charakteren bevölkert, auch wenn die Geschichten mittlerweile zurückhaltender sind, er sich mehr in Anspielungen und Andeutungen verliert, als dem Hörer immer sofort aufs Brot zu schmieren, was seine Figuren denn gerade wieder angestellt haben. Der erste Song „I hope this whole thing didn’t frighten you“ beginnt in bester Hold Steady-Tradition. Erzählt wird aus der Perspektive eines jungen Mannes, der seine neue Freundin seinen Freunden vorstellt, die jedoch wenig Begeisterung zeigen. Die wiederkehrende Zeile: „I hope this whole thing didn’t frighten you“ zeigt bereits die Paradoxie, die den Figuren Finns seit jeher innewohnt, denn was auf den ersten Blick als überhebliche Geste wirkt, wird mit den Worten „There were times when it terrified me“ weitergeführt. Ich hoffe, das, was ich dir eben gezeigt habe, hat dir keine Angst gemacht? Mich jedenfalls hat es in Panik versetzt. Er erzählt, er kenne diese Jungs eben schon lange, man sei sich mal sehr nahe gewesen. Aber in Wirklichkeit sei er ja nur wegen der Musik zu der Clique gestoßen. Und, naja, das sei ja schon ein Teil der Stadt, von dem er eigentlich gehofft habe, sie würde ihn niemals zu Gesicht bekommen. Aber was ist denn genau passiert bei dem Aufeinandertreffen? Was sind das für Typen? Was haben sie Schreckliches getan? Er erwähnt einen Bunker, Gasmasken, bezeichnet sie als mögliche Visionäre. Ihm sei aufgefallen, dass sie dem einen auf die Schuhe, dem anderen auf die Zähne geschaut hätte. Antworten bekommen wir nicht. Wie bei einer klassischen short story werden wir nur Zeuge der Rückfahrt und sehen das erschreckte Gesicht der Freundin vor uns und einen hastig erklärenden, immer hektischer werdenden Erzähler. Genau so hat Raymond Carver auch geschrieben, und der ehemalige Literaturstudent Craig Finn weiß das natürlich.

In „The Only Thing“ berichtet ein Ich-Erzähler einem Freund von einer gemeinsamen Geliebten, die irgendwo in einem Lagerraum hinter dem Flughafen haust und von deren Zähnen er immer träume. Man sei ja immer irgendwie miteinander verbunden. Und ja, die Stadt sei viel toller gewesen, als es noch nicht soviel Polizei hier gegeben hätte, da hätte man vor allem nicht immer so auf die Geschwindigkeit achten müssen. Auch hier bekommt der Hörer nur Bruchstücke einer Konversation mit, kann das Gehörte auf mehrere Arten deuten und weiß am Ende nicht so recht, was ihm da genau erzählt wurde.

Das fast zehnminütige „Oaks“ („Unser mit Abstand längster Song und mein mit Abstand kürzester Songtitel“, gab Finn jüngst zu Protokoll) geht diese Richtung des Angedeuteten, nicht Ausgesprochenen weiter. Wahrscheinlich beschreibt es die Fahrt des Opfers einer Überdosis ins Krankenhaus. Er hat diese Fahrt wohl nicht überlebt. Oder vielleicht doch? Er sieht die Äste der titelgebenden Eichen am Straßenrand, wie sie menschlichen Armen gleichen und nach ihm greifen, bevor der Song in ein minutenlanges Gitarrensolo des an dieser Stelle auch einmal zu erwähnenden Gitarristen Tad Kubler eingeht, dessen Markenzeichen es ist, abgestandenen 1980er-Jahre-Soli zu neuer Würde zu verhelfen.

Es gibt Anhänger dieser Band, die hassen die Entwicklung weg vom Teenage-Drama hin zur Darstellung der Erwachsenenwelt, die The Hold Steady mit diesem Album endgültig vollzogen haben. Die Begründung ist einleuchtend, denn wenn Holly, Charlemagne und Gideon schon keine Zukunft hatten, warum sollte man diese dann trotzdem darstellen. Diese Hörer verkennen jedoch, dass das Prinzip des Live-Fast-Die-Young mehr Attitüde denn Lebensmotto von Finns Figuren war, denn zu keinem Zeitpunkt hatten sie die Entscheidung über ein würdevolles Verglühen in der Jugend selbst in der Hand. Finns Figuren waren schon immer Teil eines Systems von jugendlichen Codes, nach denen sie sich verhielten, und welche von der Inbrunst, mit denen Finn sie ihre Überzeugungen aussprechen ließ, kaschiert wurden.

The Hold Steady – Teeth Dreams
(Washington Square / Rough Trade)

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz