Vom Schlecht-Sein und Schlecht-Scheinen

William Shakespeares Sonett 121

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Der Lyriker Shakespeare ist eine späte Entdeckung der Romantiker, nicht zuletzt August Wilhelm Schlegels. Oft ins Deutsche übersetzt, ist er doch im Deutschen nicht so heimisch geworden wie der Dramatiker. Ein Moment von Fremdheit haftet seinen Gedichten an, die nicht nur historischer, sondern durchaus auch poetischer Art ist. Von der in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert beliebten Stimmungs- und Erlebnislyrik unterscheiden sie sich deutlich. Erkennbar stehen die Sonnets noch in einer Tradition, der petrarkistischen, von der sie sich jedoch ebenso deutlich absetzen. Dabei muten sie zugleich kühn und konventionell, rhetorisch und kalkuliert skandalös an. Ihr Pathos wird durch ihren Witz ausbalanciert, der allerdings eher intellektuell, nicht selten sprachspielerisch ist. Jedes von ihnen ist eigenartig – und zugleich typisch. So auch das 121. Sonett.

‘Tis better to be vile than vile esteemed,
When not to be receives reproach of being;
And the just pleasure lost, which is so deemed
Not by our feeling, but by others’ seeing:
For why should others’ false adulterate eyes
Give salutation to my sportive blood?
Or on my frailties why are frailer spies,
Which in their wills count bad what I think good?
No, I am that I am, and that they level
At my abuses reckon up their own:
I may be straight, though they themselves be bevel;
By their rank thoughts my deeds must not be shown;
Unless this general evil they maintain,
All men are bad and in their badness reign.

Das 121. ist nicht das prominenteste der Sonette Shakespeares. Andere haben mehr Aufmerksamkeit erfahren, etwa das erste oder die beiden letzten, das 153. und das 154., weiter das 110. und das 66. Sie alle scheinen auch für den Zyklus insgesamt von größerer Aussagekraft zu sein. Tatsächlich erfährt man über die Dreiecks-Geschichte, die den Sonetten zugrunde liegt, zumal über ihren skandalösen homosexuellen Teil, aus dem 121. so gut wie nichts. Auch die sonst zum Teil parodistischen Bezüge zur petrarkistischen Lyrik sind, wenn überhaupt, nicht stark ausgeprägt. „121“, hat Harold Bloom geschrieben, „könnte auch ein selbständiges Gedicht gewesen sein, ohne zwingenden Verweis auf irgendeine homoerotische Beziehung zu dem blonden Edelmann. Wir wissen es nicht, und das Gedicht ist deshalb vielleicht stärker.“

Das Sonett ist allerdings kaum auf Anhieb zu verstehen, so gedrängt wirkt es. Es wartet mit einem Repertoire von rhetorischen Figuren auf, zu denen Sentenzen, sich selbstbeantwortende Frage, Vergleiche und Antithesen gehören. Dabei ist es reflektierend und argumentierend: ein Gedankengedicht, wenn auch ein temperamentvolles. Und, zumindest am Anfang, zugleich ein rätselhaftes: Worauf es sich bezieht, was sein Anlass ist, erfährt der Leser zunächst nicht. Das Thema des Sonetts ist auch  nicht, wie in manchen anderen Sonetten des Zyklus, die Schönheit, sondern das Gute und das Schlechte oder genauer: das Gut- und Schlechtsein und -scheinen. Damit verbindet sich das Verhältnis, das andere – „others“ – zu dem Sprecher haben oder haben könnten – und nicht nur zu ihm, sondern auch zu jemandem wie ihm.

Die Gedankenbewegung ist eigentümlich wechselnd: zwischen Behauptung und  Frage, neuerlicher Bekräftigung und schließlicher Einschränkung – und vor allem zwischen allgemeiner Sentenz und konkretem Kasus. Das Gedicht setzt mit einem generalisierenden Satz ein – wie es auch mit einem endet –, dessen Subjektivität nur nach und nach erkennbar wird. In der vierten Zeile ist zwar von „our feeling“ die Rede, doch ist das Adjektiv dabei noch im Sinn eines „unser aller“ verstehbar. Von „my“ ist erst im sechsten Vers die Rede, bevor im neunten dann das „I“ auftaucht. Die Grammatik des Gedichts verrät die Sprechhaltung. Was der Sprecher zu sagen hat, ergibt sich aus seinem Fall, geht aber über ihn hinaus. Dass die einleitende Sentenz ein Erfahrungssatz ist, erfasst der Leser nicht sofort. Das Sonett wendet sich ausdrücklich erst im zweiten Quartett dem Sprecher zu, bevor es schließlich wieder allgemein wird. So lebt das Gedicht von der Spannung zwischen Verallgemeinerung und Konkretisierung, die wechselweise aufeinander bezogen werden können: Was generell scheint, kann auch individuell sein; was individuell scheint, geht auch ins Generelle.

Die einleitende Sentenz ist so überraschend wie schwer nachvollziehbar: Warum ist es besser, verwerflich zu sein, als verwerflich zu scheinen? Der folgende Nebensatz gibt die Begründung – dass der, der es nicht ist, dennoch dem Vorwurf ausgesetzt ist, es zu sein und auf diese Weise sein berechtigtes Vergnügen verliert. Im zweiten Quartett spricht der Sprecher dann von seiner Geschichte, die ihn offenbar zu der Erkenntnis veranlasst hat – aber auch das nur in Andeutungen. Die Stichworte „adulterate“ und „frailties“ mögen dem Leser bedeuten, dass, was dem Sprecher Verwerfliches vorgeworfen wird, auch sexueller Art ist. Für den Leser des Zyklus mag damit der Zusammenhang mit den anderen Sonetten klar sein.

Im ersten Terzett ist der Sprecher dann vollends bei sich. Die Antwort auf seine rhetorischen Fragen fällt einsilbig bestimmt aus („No“) und die folgende Versicherung wieder sentenzhaft knapp: „I am that I am“. Sie ist weniger trotzig als selbstgewiss gemeint: Der Sprecher weiß, dass er kein krummer Mensch ist, sondern „straight“ – und für ungerade nur gelten kann, wenn alle Menschen grundsätzlich schlecht sind, wie manche behaupten. Durch diese Einschränkung im zweiten Terzett bleibt allerdings eine Unsicherheit beim Leser zurück: Ist der Sprecher nun gut, wie er trotz seiner „frailities“ und „abuses“ beteuerte, oder doch, eben ihretwegen, schlecht, wenn auch nur wie alle Menschen?

Das Gedicht liest sich im Ganzen als ein Selbstbekenntnis: als ein Bekenntnis des Sprechers zu sich selbst – gegen die Verdächtigungen anderer. Denen wird unterstellt, dass sie, schlecht, wie sie sind, in jedem nur das Schlechte sehen wollen, so auch in ihm. In dieser Unterstellung, die im ersten Quartett schon anklingt, ist der Sprecher dann nahe bei der im letzten Vers zitierten Annahme, „All men are bad and in their badness reign“. Sie gilt offenbar für die, die sie vertreten.

Kunstvoll, ja raffiniert ist das Sonett nicht nur in den Wendungen seiner Argumentation, auch in seinem geschliffenen Stil und in seiner Tiefenstruktur. Manche Beziehungen sind auf den ersten Blick kaum zu erkennen. Anspielungsreich zumindest ist der neunte Vers: „I am that I am“, der Interpreten wie Harold Bloom an das „Ich bin, der ich bin“ von Exodus 3,14 erinnert hat. Die Formulierung „their wills“ mag zu den Wortspielen mit Shakespeares Vornamen in den Sonetten zählen. Das Wort „(general) evil“ ist ein Anagramm von „vile“ und gehört somit zu der Reihe der Antithesen, die der Sprecher zwischen sich und den anderen aufmacht.

Blooms Charakteristik der Sonette: als „autobiographisch und universal, persönlich und unpersönlich, ironisch und leidenschaftlich, […] verletzt und unversehrt“, gilt auch für das 121., das all das in einem ist. Mag es auch nicht zu den zentralen Gedichten des Zyklus zählen, so ist es doch schon durch seine Virtuosität repräsentativ.

Shakespeares Sonnets sind neben den Fleurs du mal Charles Baudelaires wohl der am häufigsten ins Deutsche übersetzte Gedichtband: mehr als 70 Mal im Ganzen, ungefähr drei Mal so oft im Einzelnen. Bezeichnend ist dabei nicht zuletzt, wie „vile“ übersetzt wird. Christa Schüncke wählt dafür „Schurke“, Karl Kraus „schlecht“, wie viele von Gottlob Regis bis Stefan George vor ihm. Gegen die Übertragung von Karl Kraus, die klar und lesbar, dabei aber nicht immer nah am Wortlaut des Originals ist, unterscheidet sich ansonsten – ganz nach seinem Willen – tatsächlich die Stefan Georges deutlich, weniger durch die eine oder andere Ungenauigkeit als durch fast ungelenke Manierismen. Aber vielleicht gilt für sie das gleiche wie für Shakespeares Sprecher: Schlecht-Scheinen muß nicht Schlecht-Sein bedeuten.

Literaturhinweise

William Shakespeare: Sämtliche Werke IV. Zweite Abteilung: Poetische Werke. Übersetzt von Friedrich Bodenstedt u.a. Darmstadt 2005. Sonett 121, S. 130.

Harold Bloom: Die Kunst der Lektüre. Wie und warum wir lesen sollten. Aus dem amerikanischen Englisch von Angelika Schweikhart. München 2. Aufl. 200. Zitate S. 116 und 113.

Übersetzungen

von Stefan George:

Besser ist schlecht zu sein als schlecht genannt
Wenn nicht-bestehn verklagt wird zu bestehen
Und edle lust verpönt – nicht aberkannt
Durch unser fühlen · doch durch Andrer sehen.

Was sollte Andrer fälschend tückische nähe
Die blicke werfen auf mein lebhaft blut?
Was soll für meine schwächen schwächere spähe
Der das als bös erscheint was mir als gut?

Nein · ich bin der ich bin .. die losgezogen
Auf meine fehler stellen ihre dar.
Ich mag gerade sein · sie selbst gebogen –
Nicht leg ihr geiler sinn mein handeln klar.

Sie glaubten denn ans übel allerseit:
Jeder sei schlecht und herrsch in schlechtigkeit.

(Stefan George: Shakespeare. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 12, Berlin 1931, S. 127; zuerst in: Shakespeare Sonnette. Umdichtungen. Berlin 1909)

von Karl Kraus:

Viel besser: schlecht sein, als für schlecht zu gelten,
wenn, der’s nicht ist, doch dafür wird gehalten,
und edlen Liebesdrang, den wir nicht schelten,
die Welt verneint in ihrem kalten Walten.

Warum denn sollte voller Hochmut sprechen
die Heuchelei von meinem freien Blut,
die Schwäche, die sich rächt an meinen Schwächen,
für schlecht befinden, was ich hielt für gut?

Nein, der ich bin, der bin ich; wer mir rief
Verfehlung nach, nur von sich selber spricht;
sie sind nicht grade, und ich bin nicht schief,
ihr Schuldspruch gelte nicht als mein Gericht!

Sie sprechen Unrecht; wenn man nicht mit Recht
die Menschheit insgesamt erkennt für schlecht.

(Shakespeares Sonette. Nachdichtung von Karl Kraus. Wien, Leipzig: Verlag der Fackel 1933.)

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag eröffnet die Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz