Sex, Wein und Gesang

Jean Verdons Blick auf das Lustempfinden und die Lustfeindlichkeit des Mittelalters

Von Marc-André KarpienskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc-André Karpienski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Untertitel des Buches „Liebe, Sex und Sinnlichkeit“ mag den Leser zusammen mit der Buchmalerei auf dem Umschlag, die ein leicht bekleidetes Pärchen zeigt, auf eine falsche Fährte locken. Es geht nicht nur um Sex und Erotik in diesem Buch, sondern auch um das Essen und Trinken, Spielen und Feiern und um ästhetische und intellektuelle Genüsse. So ist man erfreut, mehr zu entdecken als man ursprünglich vermutet hat.

Jean Verdon stellt die Frage nach dem Platz der Lust im Lebenskonzept der mittelalterlichen Menschen. Ist sie vorstellbar und wünschenswert bei theologischen Auffassungen von Lustverzicht und Lustverdammung? Nicht nur die literarische Reflexion über das Erleben der Lust wird so betrachtet, sondern auch die theoretische Konzeptionierung wird untersucht.

Der Autor ist ein ausgewiesener Kenner der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte, der sich in kurzen Kapiteln im ersten Teil des Geschlechtsverkehrs annimmt, um im zweiten Teil kirchliche Standpunkte zum Sex und allgemein zur Lust zu präsentieren. Die letzten Kapitel im dritten Teil sind anderen Genüssen – vom Essen bis zum Schreiben von Büchern – gewidmet.

So stürzt man sich ins Lesevergnügen und lässt sich von Absatz zu Absatz, von Kapitel zu Kapitel tragen. Bei diesem gut zu lesenden Buch mit nur ganz wenigen Rechtschreibfehlern fällt dies leicht. Dennoch bleibt es einem Rezensenten nicht erspart, innezuhalten und dieses Werk kritisch zu betrachten.

Zum einen erstaunt die Struktur des Buches. Man könnte meinen, die Hervorhebung der Sexualität am Anfang solle den Leser an das Buch fesseln, so dass er die vermeintlich trockenen Passagen zu den theologischen Vorstellungen im Folgenden umso weniger meidet. Diese Herangehensweise hat allerdings den Nachteil, dass manche Information des zweiten theologischen Teils vorgezogen werden muss, um den ersten Teil verständlich zu machen.

Auch sonst geht Verdon einige Umwege. Beispielweise schreibt er vom Übergewicht der männlichen Sexualität in der medizinischen Literatur, was er als Indiz für die Frauenfeindlichkeit interpretiert. Wie er zu dieser Schlussfolgerung kommt, bleibt an der Stelle unklar. Die Begründung der Aussage kann erst nach einigen anderen Absätzen erschlossen werden. Zu Beginn des Buches wird des Weiteren die Wichtigkeit des Sehens betont, damit Liebende zueinanderfinden. Kenner der Kulturgeschichte des Mittelalters möchten an dieser Stelle das Besondere des Sehens in dieser Zeit ergänzen, aber Verdon schweigt dazu. Erst viele dutzende Seiten später wird als Einleitung eines anderen Kapitels diese besondere Wertschätzung des Sehens erläutert. Der Aufbau des Textes erleichtert so nicht den Erkenntnisgewinn.

Manche Aspekte werden mit einem oder zwei Sätzen abgehandelt, wie zum Beispiel das Thema Vergewaltigung. Die Erkenntnis, die daraus gezogen wird, bleibt oberflächlich: „Literatur und Realität stimmen nicht immer überein.“ Nicht mehr als zwei Seiten umfasst das Kapitel, das die Liebenden „in der Wirklichkeit“ zeigt, also abseits der Minnelieder und höfischen Lehrschriften. Nach den vorherigen 13 Seiten zur höfischen Liebe erscheint dies doch zu wenig, ist aber wohl dem Forschungsinteresse des Autors geschuldet.

Durch das Fehlen von Verweisen wird dann auch noch die Nachverfolgung bestimmter Quellenaussagen stark erschwert. Dies wird insbesondere dann ärgerlich, wenn zum Beispiel nur von einem „Text aus dem 13. Jahrhundert“ die Rede ist und keine weitergehenden Informationen gegeben werden. Oder man erfährt nur von „Moralisten der Zeit um 1400“, ohne ahnen zu können, welche Autoren und Texte gemeint sind. Auch ein Register fehlt, was ein schnelles Wiederfinden bestimmter Sachverhalte ermöglichen würde.

Überhaupt neigt Verdon nicht dazu, Eingrenzungen und Differenzierungen in Hinblick auf Orte und Zeiten vorzunehmen. Redet er vom Hoch- oder Spätmittelalter? Gilt das Gesagte für ganz Europa? Gibt es hier einen höfischen oder städtischen Kontext? Ein wenig expliziter darf wissenschaftliche Literatur schon sein. Andererseits verwundern dann sehr explizite Aussagen zur Quellenbasis. Der Historiker verfügt „praktisch nur über literarische Texte“ heißt es zu Beginn, aber im weiteren Kapitel werden andere Textformen benannt und für die Argumentation verwendet.

Jean Verdon hat eine sprachlich eingängige Synthese geschaffen, allerdings wird die Lust am Lesen nicht vollends befriedigt. Der aufmerksame Leser hat ein unrundes Werk vor sich, dem ein weitergehendes Lektorat und einige Ergänzungen gut getan hätten. So ist es weder eine Einführung noch eine gute Übersicht über das Thema der irdischen Lust und kann nur als Fundgrube für interessante Quellenzitate und Einsichten in Teilaspekte dienen.

Titelbild

Jean Verdon: Irdische Lust. Liebe, Sex und Sinnlichkeit im Mittelalter.
Übersetzt aus dem Französischen von Gaby Sonnabend.
Primus Verlag, Darmstadt 2011.
189 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783896787736

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