Irgendwo zwischen Cooper und Joyce

Joseph Conrads „Lord Jim“ in einer neuen Übersetzung

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Joseph Conrads Roman „Lord Jim“ gehört zu den Klassikern, die man eigentlich gelesen haben sollte. Die erste Lektüre liegt schon einige Jahre zurück, und als Freund der Wiederholungslektüre spricht nichts gegen ein erneutes Lesevergnügen mit einem der besten Romane Conrads. Joseph Conrad hat nach wie vor eine merkwürdige Anziehungskraft auf den Leser. Zunächst erwartet einen eine Mischung aus autobiografischen Erlebnissen eines wortmächtigen Schriftstellers, der seine Erlebnisse auf den Weltmeeren aus erster Hand berichten kann; Geschichten, bei denen man zwischen Erlebtem und Erfundenem hin und her gerissen wird. Conrads Protagonisten sind meistens Vertreter hoher Ideale und haben große Aufgaben vor sich, denen sie leider nicht immer gerecht werden (können) und die letztendlich an den eigenen Vorsätzen und Ansprüchen scheitern. Dabei bedienen die Protagonisten als „aufrechte Helden“ besonders männliche Identifikationsbilder.

In dem Roman „Lord Jim“ ist der Protagonist Jim ein junger britischer Seemann. Er ist Offizier auf der Fähre „Patna“, die, besetzt mit Pilgern, unterwegs nach Mekka ist. In einem entscheidenden Moment verlässt er das Schiff, lässt Mannschaft und Passagiere im Stich. Vor einem Seedisziplinargericht werden ihm alle seemännischen Ehren aberkannt. Seine Freundschaft mit Marlow, den er bei der Gerichtsverhandlung kennenlernt, begleitet ihn in den folgenden Jahren. Bei den Versuchen, sich gesellschaftlich zu etablieren, scheitert er aufgrund seines Versagens in der Vergangenheit. Erst mit dem Vorschlag seines Freundes Marlow, Jim als seinen Stellvertreter auf einer malaiischen Insel zu beschäftigen, ändert sich sein Leben. Er hilft den Einwohnern der Insel und verteidigt sie gegen den Räuber Sharif Ali, gewinnt die Zuneigung einer Frau und scheint seinen Frieden gefunden zu haben. Aber wir wären nicht bei Joseph Conrad, wenn man hier einen möglichen Schluss der Erzählung vermuten könnte.

Nachdem Jim einige Jahre auf der Insel gelebt und sich gesellschaftlich etabliert hat, erscheint sein Alter Ego, der Pirat „Gentleman“ Brown. Nach einer Konfrontation und der Festnahme von Brown erwähnt dieser beim Verhör Jims dunkle Vergangenheit. Dieser will seine neue Identität retten, verrät seine Freunde, lässt – um seinen „Makel“ zu vertuschen – die Piraten ungeschoren von der Insel entkommen und verschuldet den Tod eines Freundes. Dessen Vater erschießt letztendlich Jim, nachdem dieser sich ihm gestellt hat.

Joseph Conrad ist einer der Schriftsteller, die ihre Anziehungskraft behalten haben. Bei Conrad trägt sowohl seine von abenteuerlichen Erlebnissen durchzogene Biografie als auch das exotische Ambiente seiner Bücher zum lang anhaltenden Erfolg seines Werkes bei. „Lord Jim“ ist das Buch Conrads, welches die größte Neugier bei den forschenden Lesern verursacht hat. Auch ist das Identifikationspotenzial mit der Hauptfigur Lord Jim relativ hoch – trotz der Thematisierung von Schuld, Scham und Makel. Unter diesen Aspekten bietet „Lord Jim“ eine spannende Lektüre, obwohl man an manchen Stellen durchaus mit Längen in der Darstellung zu kämpfen hat. Aber es ist vor allem die gelungene Übersetzung, die Conrads Prosa nahezu in einen Bewusstseinsstrom verwandelt und durchaus an Joyce erinnern lässt. Hier ist Manfred Allié für seine Übersetzungsleistung ein deutliches Lob auszusprechen. Trotzdem bleibt die vielleicht zu Beginn der Lektüre noch vorhandene „sentimentale“ Lesehaltung auf der Strecke und – man kann es nicht anders sagen – es wird langweilig. Ohne dem begeisterten Conrad-Leser zu nahe zu treten, bleibt doch „Heart of Darkness“ (1899) der unterhaltsamere Text.

Titelbild

Joseph Conrad: Lord Jim. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Manfred Allié.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2014.
492 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783596950164

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