Wie die Fäden zwischen Psychoanalyse und Psychiatrie gerissen sind

Der lang erwartete Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Eugen Bleuler dokumentiert im Lichte sehr persönlicher Zeugnisse eine folgenreiche Episode der Wissenschaftsgeschichte

Von Bernd NitzschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Nitzschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner 1914 veröffentlichten Bestandsaufnahme „Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ – da ist die Spaltung zwischen Wien und Zürich bereits vollzogen – schreibt Sigmund Freud, auf einst so große Hoffnungen zurückblickend: „Eine Zuschrift von Bleuler hatte mich schon früher wissen lassen, daß meine Arbeiten im Burghölzli studiert und verwertet würden. Im Jänner 1907 kam der erste Angehörige der Züricher Klinik, Dr. Eitingon, nach Wien, es folgten bald andere Besuche, die einen lebhaften Gedankenaustausch anbahnten; endlich kam es über Einladung von C. G. Jung, damals noch Adjunkt am Burghölzli, zu einer ersten Zusammenkunft in Salzburg im Frühjahre 1908, welche die Freunde der Psychoanalyse von Wien, Zürich und anderen Orten her vereinigte. Eine Frucht dieses ersten psychoanalytischen Kongresses war die Gründung einer Zeitschrift, welche als ‚Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen’, herausgegeben von Bleuler und Freud, redigiert von Jung, im Jahre 1909 zu erscheinen begann. Eine innige Arbeitsgemeinschaft zwischen Wien und Zürich fand in dieser Publikation ihren Ausdruck.“

Das sollte der Anfang einer wunderbaren Freundschaft sein – die fünf Jahre später an unüberbrückbaren Gegensätzen zwischen einem Vater (Freud) und einem Sohn (Jung) schon wieder zerbrach. 1909 hatte Freud Jung noch prophezeit: „Sie werden als Joshua, wenn ich der Moses bin, das gelobte Land der Psychiatrie, das ich nur aus der Ferne schauen darf, in Besitz nehmen.“ Jung hatte zwei Jahre zuvor eine Arbeit „Über die Psychologie der Dementia praecox“ veröffentlicht, in der er Freuds neue Theorie der unbewussten Psychodynamik berücksichtigte. Zur selben Zeit hatte sein Vorgesetzter Eugen Bleuler, der Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, die im Volksmund nach dem in der Nähe gelegenen Hügel „Burghölzli“ genannt wird, über „Freud’sche Mechanismen in der Symptomatologie der Psychosen“ publiziert. Als Freud sich dafür bei Bleuler bedankte, formulierte er eine Hoffnung: „[…] ich bin zuversichtlich, wir erobern bald die Psychiatrie“.

Diesen Halbsatz hat Michael Schröter, der Herausgeber des Briefwechsels zwischen Freud und Bleuler, als Titel des schmalen Bandes gewählt. Der Leser mag sich fragen: warum? Warum wurde eine gescheiterte Hoffnung zum Motto erhoben, wenn doch Freud selbst den 1911 in die „Internationale Psychoanalytische Vereinigung“ (IPV) eingetretenen und im selben Jahr schon wieder ausgetreten Eugen Bleuler, der Ende 1913 auch als Mitherausgeber des „Jahrbuchs“ aufgab, noch nicht einmal im Kapitel über „Psychoanalyse und Psychiatrie“ der 1916/17 erschienenen „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ beim Namen genannt und dort keine der psychiatrischen Arbeiten Bleulers zitiert hat?

Eugen Bleuler, der ein Jahr jünger war als der 1856 geborene Freud und im selben Jahr – 1939 – wie Freud starb, hat sich nie als dessen „Sohn“ gefühlt. Es gab für ihn – anders als für C. G. Jung – deshalb später auch keinen Grund, wissenschaftliche Differenzen als Ausgangspunkt persönlichen Autonomiestrebens zu benutzen. Bleuler blieb nach der Trennung auf institutioneller Ebene von Freud noch immer freundschaftlich-wertschätzend verbunden mit Freud.

Freud hatte sich im Oktober 1898 in einem (nicht erhaltenen) Brief bei Bleuler nach den Aufnahmemodalitäten der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich erkundigt. Bleuler, der dem Burghölzli schon damals als Direktor vorstand, antwortete, derzeit seien „eigentlich Unruhige“ nicht unterzubringen. Daher „bitten wir Sie um vorherige Einsendung eines ärztlichen Zeugnisses mit genauer Beschreibung des Verhaltens“, sollte Freud den „Pat. hieher schicken wollen“. Danach gibt es im (erhaltenen) Briefbestand eine Lücke von mehreren Jahren. Im September 1904 meldete sich Bleuler wieder. Er habe das „Bedürfnis“ nach einer „nicht allzu lange[n] und einfache[n] Zusammenstellung der Resultate Ihrer Forschung“, ließ er Freud wissen, „die den in der Psychologie ganz unerfahrenen Schülern zur Lectüre empfohlen werden“ könne. Der letzte abgedruckte Brief stammt dann wieder von Freud. Am 23. Januar 1937 hatte ihm Bleuler geschrieben: „Zu meiner Freude habe ich vor Kurzem vernommen, dass es Ihnen gut gehe und dass sie noch täglich Patienten empfangen.“ Freuds lakonische Antwort lautete: „Ja, ich […] behandle noch täglich Patienten, aber es sind recht wenige. Man drängt sich nicht mehr zu so einem alten Mann.“ Zu diesem Zeitpunkt litt er bereits seit über einem Jahrzehnt an Gaumenkrebs und konnte kaum mehr deutlich sprechen. Doch der „alte Mann“ und sein Werk waren jetzt in aller Welt bekannt, wenngleich nicht unumstritten.

So hatte man Freud bereits mehrfach für den Nobelpreis der Medizin, aber auch für den der Literatur vorgeschlagen. Bekommen hat er jedoch keinen von beiden. 1937 setzten sich abermals prominente Wissenschaftler für Freud ein, darunter Julius Wagner-Jauregg, der 1927 den Medizin-Nobelpreis erhalten hatte, und Eugen Bleuler, der in der Psychiatrie einen hervorragenden Ruf besaß; die Termini „Schizophrenie“, „Autismus“ und „Ambivalenz“ gehen auf ihn zurück. In dem Brief, den Bleuler nach Schweden schrieb, heißt es: „Kollegen sagen mir, dass Prof. Sigmund Freud in Wien für den Nobelpreis vorgeschlagen sei, und dass es erlaubt und in diesem Fall auch erwünscht wäre, ungefragt dem Komitee meine Ansicht mitzuteilen. Ich habe nun die Arbeiten Freuds und ihre Wirkungen seit den Neunzigerjahren verfolgt und kann bezeugen, dass seine Entdeckung der Symptomatik des Unbewussten und der Wege zu dessen wissenschaftlicher Erforschung von grösster praktischer und theoretischer Bedeutung sind, wenn auch einige Nebensachen der Korrektur bedürftig sind. Die ganze Psychopathologie – auch die seiner Gegner – hat durch seine Arbeiten eine wesentliche Umgestaltung erfahren, die auch für die Therapie der Nerven- und Geisteskrankheiten von Wichtigkeit ist.“

Ja, so war Eugen Bleuler – und so tritt er uns in seinen Briefen an Freud auch entgegen: ein nüchtern urteilender Wissenschaftler, der genug Selbstbewusstsein besaß, um Freuds Leistungen neidlos würdigen zu können. Er schätzte Freud, wurde aber nicht zu seinem gläubigen Anhänger. Deshalb musste er sich – anders als C. G. Jung – später auch nicht schmerzhaft von eigenen und fremden Idealisierungsbedürfnissen befreien. Dieses Bild Bleulers hat durch den jetzt veröffentlichten Briefwechsel an Kontur gewonnen, ist aber nicht neu, denn von den zwischen 1898 und 1937 gewechselten 79 (erhaltenen) Briefen – von denen 56 (meist mit der Maschine geschriebene) Briefe von Bleuler und 23 (überwiegend mit der Hand geschriebene) Briefe von Freud stammen – wurde etwa die Hälfte bereits früher an anderen Stellen veröffentlicht.

Die selektive Editionspraxis geht auf Eugen Bleulers Sohn Manfred zurück, der dem Burghölzli von 1942 bis 1969 als Direktor vorstand. Tina Joos-Bleuler, eine Enkelin Eugen Bleulers und Tochter Manfred Bleulers, gibt in ihrem – dem Briefband vorangestellten – „Geleitwort“ detailliert Auskunft über diese zögerliche Haltung ihres Vaters. Zwei der Gründe, die dazu führten, dass er Teile des Briefwechsels zurückhalten wollte, seien hier – in der Diktion Manfred Bleulers – genannt: Zum einen hielt er eine vollständige Veröffentlichung des Briefwechsels „beinahe [für] eine Blosstellung Freud’s“; und zum anderen war er der Meinung, dass die „lange[n] und unerquickliche[n] Diskussionen […] in Bezug auf Bleuler’s Mitgliedschaft zur Zürcher Psychoanalytischen Vereinigung“ heute (1987) nicht mehr interessant seien. „Man sollte sie vergessen“, meinte er. Dieser Auffassung ist zu widersprechen, denn die Hälfte der nun endlich doch noch vollständig veröffentlichten Korrespondenz fällt in den Zeitraum von 1910 bis 1913. Das waren die Jahre, in denen Entscheidungen getroffen wurden, die das weitere ‚Schicksal’ der Psychoanalyse nachhaltig bestimmten: Die Psychoanalyse geriet nach der Spaltung zwischen Wien und Zürich ins Ghetto eines nach außen hermetisch abgeschlossenen Vereins – und damit in die akademische Isolation.

Beim 2. Internationalen Psychoanalytischen Kongress, der 1910 in Nürnberg stattfand, wurde die IPV gegründet. Auf Wunsch Freuds hatte man Jung als Präsident „auf Lebenszeit“ gewählt. 1913 legte Jung dann aber schon wieder die Redaktion des „Jahrbuchs“ nieder; und ein Jahr später trat er aus der IPV aus. Darauf hatten Freud und die mit ihm verbündeten Treuesten der Treuen – Karl Abraham, Sandor Ferenczi, Ernest Jones, Otto Rank und Hans Sachs – zielstrebig hingearbeitet. 1912 hatten sie hinter dem Rücken des amtierenden IPV-Präsidenten Jung ein „Geheimes Komitee“ gegründet, das darüber wachen sollte, was noch als Psychoanalyse gelten durfte – und was verworfen werden sollte. In einem an Max Eitingon gerichteten Brief hat Ferenczi später (Dezember 1919) den Zweck des „Geheimen Komitees“ so beschrieben: „Es gilt, die großen Ideen und Erkenntnisse Freuds über alle Fährlichkeiten, die ihr von externer wie von interner Seite drohen, zu bewahren […]. Alles, was er uns sagte und sagen wird, muss also mit einer Art Dogmatismus gehegt werden, auch Dinge, die man vielleicht geneigt wäre anders auszudrücken. […] Die Fähigkeit, auf eine eigene Idee zu Gunsten der zentralen zu verzichten, ist also eine der Hauptbedingungen, an die die Mitgliedschaft des Komitees geknüpft ist.“ Alfred Adler, Wilhelm Stekel und C. G. Jung waren zu derlei Verzicht nicht bereit. Sie wurden ausgegrenzt. Im Lichte der Vielzahl der heute auch vom Mainstream (sprich: der IPV) akzeptierten psychoanalytischen „Schulen“ ist diese Engstirnigkeit kaum noch zu verstehen, ist doch vieles von dem, was verdrängt wurde, längst in neuer Terminologie wiedergekehrt, während die von Freud verteidigte „Triebtheorie“ heute oft nur noch halbherzig vertreten oder gänzlich zurückgewiesen wird.

In der programmatischen Rede, die er in Nürnberg 1910 anlässlich der Gründung der IPV hielt, sprach Ferenczi auch „das Auftreten der Züricher“ an. Das Verdienst dieser Gruppe um Bleuler und Jung bestehe darin, „Freuds Ideen durch ihre Verknüpfung mit den Methoden der Experimentalpsychologie auch für jene zugänglich gemacht zu haben, die zwar auch aufrichtig nach der Wahrheit suchten, die aber ihre Ehrfurcht vor der ‚Exaktheit’ von Freuds Forschungen, die mit aller hergebrachten psychologischen Forschungsmethode brachen, zurückschrecken ließ“ [Herv.: B. N.]. Mit diesen Worten brachte er offenes Lob (für jene, die aufrichtig nach der Wahrheit suchen) und versteckten Tadel (für jene, die zuviel Ehrfurcht vor der ‚Exaktheit’ empirischer Forschung besitzen) zum Ausdruck. Wenn „die“ Zürcher – allen voran Eugen Bleuler und C. G. Jung – hellhörig waren, dann konnten sie beides auch auf sich beziehen.

Am 9. Juni 1905 hatte Bleuler an Freud geschrieben, er sei jetzt dazu gekommen, die „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ sowie das ebenfalls 1905 erschienene Buch „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ zu lesen. „Die erstere [Schrift] hätte ich gern ausführlicher gesehen. Ich glaube, sonst alle Ihre Schriften würdigen zu können. Hier aber kann ich noch nicht ganz folgen. Es fehlen mir die Beweise […].“ Freuds Antwort ist nicht erhalten. Wir können sie aber aufgrund des folgenden Passus im Brief Beulers vom 17. Oktober 1905 erschließen: „Ich glaube immer noch, dass mein Widerstand gegen einzelne Deductionen nicht ein Gemütswiderstand sei.“ Offenbar hatte Freud die Skepsis Bleulers einzelnen psychoanalytischen Thesen gegenüber zuvor als Ausdruck affektiven Widerstands gedeutet. Doch Bleuler blieb bei seinem Standpunkt: „Was mir fehlt, ist das Material, aus dem Ihre Schlüsse gezogen sind. […] Nun ist ja höchst wahrscheinlich, dass Sie die Beweise in Ihrem Kopf haben, aber in meinem sind sie nicht.“ Fünf Jahre später erläuterte Bleuler dann in einem Brief an Freud die Gründe, die ihn abhielten, in die IPV einzutreten: „Die Statuten athmen eine Ausschliesslichkeit, die meinem Charakter nicht entspricht. […] Man will unter sich bleiben […]. Ich persönlich habe aber geradezu ein Bedürfnis nach Opposition, wenn ich diskutiren soll, & ich halte dafür, dass alles, auch das beste, einseitig wird, wenn die Opposition fehlt. So kann ich eben, ohne mich aufzugeben, nicht mitmachen.“

Freud rechtfertigte die von Bleuler kritisierte Institutionalisierungspolitik in einem außergewöhnlich langen Brief. Ferenczi habe doch in Nürnberg 1910 anlässlich der Gründung der IPV „in seiner, im Verein mit mir ausgearbeiteten Rede“ betont, „daß wir jetzt bereit sein müssten, unseren Gegnern Rede zu stehen, u daß es im Interesse der Sache wäre, hier ein persönliches Opfer zu bringen“. Diese Briefstelle ist wichtig, belegt sie doch, dass Ferenczis Rede mit Freud abgestimmt war. Der Herausgeber des Briefbandes nennt die Stelle aber nicht, an der man den Text dieser Rede finden kann: Sandor Ferenczi: Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. 1. Wien/Leipzig (Internationaler Psychoanalytischer Verlag) 1927, 275-288 (im Internet: http://www.textlog.de/sf_psychoanalyse.html). Warum es 1911 erst zum Eintritt Bleulers in die IPV und noch im selben Jahr bereits wieder zu dessen Austritt kam, erläutert Michael Schröter hingegen in einem, den Briefband kenntnisreich einleitenden Beitrag über „Eugen Bleuler und die Psychoanalyse“. Er geht darin auch der Frage nach, worin die Differenzen bestanden, die dazu führten, dass Freud und Bleuler keine Einigkeit darüber herstellen konnten, wie wissenschaftliche Wahrheit in der Psychoanalyse zu gewinnen und zu belegen sei. „Bleuler gab sich alle Mühe, seine Wertschätzung für Freud mit seiner Anerkennung der üblichen Normen wissenschaftlicher Argumentation zu verbinden“, während Freud „in seiner Egozentrik“ diese Haltung Bleulers als Ausdruck der „Ambivalenz“ der Psychoanalyse gegenüber deutete.

Freud wollte die ‚Sache’, der er sich verschrieben hatte – die Psychoanalyse – so ‚rein’ wie möglich (er-)halten. Anhand eines Briefes, den er im Oktober 1909 an Max Marcuse, Herausgeber der Zeitschrift „Sexual-Probleme“, schrieb, lässt sich die Publikationspolitik verdeutlichen, die Freud damals verfolgte (s. Bernd Nitzschke, Annelise Heigl-Evers und Franz Heigl: „Wo es in einer Sache nur Gegner oder Anhänger gibt“. Ein bisher unbekannter Brief Sigmund Freuds und seine Bedeutung für die Geschichte der Sexualwissenschaft. Zeitschrift für Sexualforschung 8, 1995, S. 241-248). Jung, dem Freud damals noch vertraute, ließ er wissen: „Ich habe […] unlängst Dr. Marcuse geschrieben, er solle meinen Namen getrost aus der Liste seiner ‚ständigen Mitarbeiter’ entlassen […].“ Warum? Warum wollte Freud nicht länger als Mitarbeiter der Zeitschrift genannt werden? Weil darin auch solche Rezensenten psychoanalytische Literatur besprechen durften, die Freud nicht genehm waren.

Schwarz-Weiß-Denken dieser Art war Bleuler fremd. Ihn zeichnete die Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz aus, die nicht mit der inneren Zerrissenheit zu verwechseln ist, die gemeint ist, wenn in polemischer Absicht von Bleulers „ambivalenter“ Einstellung der Psychoanalyse gegenüber gesprochen wird. Bleuler wollte Für („Anhänger“) und Wider („Gegner“) zu Wort kommen lassen, um ein Urteil über das Objekt wissenschaftlicher Begierde zu gewinnen. Freud, der nur zu oft dem Grundsatz „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“ folgte, sah in dieser ausgewogenen Haltung jedoch eine Parteilichkeit zuungunsten der Psychoanalyse. So schreibt er in der 1914 verfassten „Geschichte der Psychoanalyse“ über Bleulers Schrift „Die Psychoanalyse Freuds, Verteidigung und kritische Bemerkungen“ (1910), nachdem er sie kurz gelobt hat: „Sie scheint mir noch immer parteiisch zu sein, allzu nachsichtig gegen die Fehler der Gegner, allzu scharf gegen die Verfehlungen der Anhänger.“

Im Herbst 1911 erschien Bleulers Hauptwerk: „Dementia praecox oder Die Gruppe der Schizophrenien“. Er schickte ein Exemplar an Freud, der sich umgehend dafür (in einem nicht erhalten) Brief bedankte. Bleuler antwortete: „Lieber Herr College! Ihr respektvolles Grausen bei der Lektüre meiner Dementia praecox kann ich lebhaft nachfühlen, wenn auch weniger den Respekt als das Grausen. Ich gratuliere Ihnen, dass Sie die etwas mühsame Arbeit bereits hinter sich haben.“

Das ist Ironie der feinsten Schweizer Art. Schließlich hatte das für die Psychiatriegeschichte so wichtige Buch Eugen Bleulers 420 Seiten! Das Exemplar, das sich in Freuds Londoner Bibliothek befindet, weist denn auch keinerlei Lesespuren (Anstreichungen, Randbemerkungen usw.) auf, wie sich anhand der von J. Keith Davis und Gerhard Fichtner erstellten DVD über den Bestand der Bibliothek Freuds erkennen lässt. Bedeutet das von Bleuler zitierte „respektvolle Grausen“, Freuds Einstellung gegenüber Bleulers Werk war so ambivalent, dass er es nicht gründlich lesen, sondern nur durchblättern konnte?

Apropos „Grausen“: Diesen in Privatbriefen durchaus möglichen, im wissenschaftlichen Diskurs aber sehr ungewöhnlich Ausdruck hat Schröter ebenfalls verwendet – und zwar an der Stelle seines Einleitungsessays, an der er u. a. auf Wilhelm Stekel zu sprechen kommt. Dessen „Werke“ könnten „heute auch Psychoanalyse-Freunde nicht ohne ein gewisses Grausen lesen“. Wie kommt Schröter zu dieser Einschätzung? Hat er Stekels umfangreiches Werk gründlich gelesen? Die Fußnote, die er an dieser Stelle einfügt, spricht nicht für allzu profunde Kenntnis: „Zu Stekel liegt bisher […] keine angemessene historiographische Würdigung vor.“ Bisher? Seit 2010 liegt das Buch von Francis Clark-Lowes „Freud’s Apostle. Wilhelm Stekel and the Early History of Psychoanalysis“, das auf einer an der University of Sussex 1999 eingereichten Dissertation beruht, gedruckt und als E-Book vor (siehe dazu: https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=17205).

Im Mittelteil des Bandes sind in Sütterlinschrift verfasste Briefe Freuds, die heutige Leser kaum mehr entziffern, wohl aber als Museumsstücke würdigen können, sowie mehrere Briefe Bleulers zu sehen. Zieht man diese knapp 30 Seiten Faksimileabbildungen vom gedruckten Briefkorpus ab, dann umfasst der eigentliche Briefteil nur etwas mehr als ein Drittel des Bandes. So umfangreich wurde bisher kein Freud-Briefwechsel mit Zugaben bestückt. Neben dem genannten Einleitungsessay des Herausgebers enthält der Band Auszüge aus Bleulers Tagebuch der für Vereinsgeschichte relevanten Jahre 1909 bis 1913 sowie mehrere Bibliographien, darunter ein Verzeichnis der Schriften Freuds, die man in Bleulers Nachlass fand.

Zum guten Schluss gibt es dann auch noch einen Beitrag von Bernhard Küchenhoff, Chefarzt an einer der Abteilungen des Burghölzli: „Zur Psychologie der Psychosen im Briefwechsel zwischen Eugen Bleuler und Sigmund Freud.“ Unter anderem geht es um die zwischen den Briefpartnern geführte Diskussion in Sachen Senatspräsident Schreber – sprich: Paranoia. Auch solche Leser, die mit den Feinheiten des psychiatrisch-psychoanalytischen Diskurses weniger vertraut sind, werden von dieser Lektüre profitieren. Wenig überzeugend ist hingegen die folgende Feststellung Küchenhoffs: „Während Freud im Laufe seiner Theoriebildung immer mehr von seiner ursprünglichen Absicht, eine naturwissenschaftliche Psychologie zu begründen, loskam […], arbeitete Bleuler immer entschiedener eine biologische Psychologie aus.“ Nun ja – Freud war anderer Meinung. In seinem wissenschaftlichen Testament – dem „Abriss der Psychoanalyse“ – zog er dieses Fazit: „Unsere Annahme eines räumlich ausgedehnten, zweckmässig zusammengesetzten, durch die Bedürfnisse des Lebens entwickelten psychischen Apparates, der nur an einer Stelle unter gewissen Bedingungen den Phänomenen des Bewusstseins Entstehung gibt, hat uns in den Stand gesetzt, die Psychologie auf einer ähnlichen Grundlage aufzurichten wie jede andere Naturwissenschaft […].“

Auch an dieser Stelle ist ein Fazit zu ziehen. Es lautet: Die Begegnung mit Eugen Bleuler hatte für Sigmund Freud (zunächst) nur Vorteile. Mit ihm gewann er einen der renommiertesten Psychiater der damaligen Zeit. So konnte er die Grenzen des engen Zirkels überwinden, der sich in der Wiener Privatpraxis um ihn gebildet hatte. Und er gewann in Zürich neue Anhänger, von denen viele später eine bedeutende Rolle in der Psychoanalyse spielen sollten. Dazu gehörten Karl Abraham, der von 1904 bis 1907 Bleulers Assistent war, und Max Eitingon, der von 1906 bis 1908 am Burghölzli arbeitet. Auch Hermann Nunberg und Abraham A. Brill (der spätere Präsident der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung) waren zeitweise an der Zürcher Psychiatrischen Universitätsklinik tätig.

Last but not least wäre C. G. Jung zu nennen, den Freud als ‚arischen’ Nachfolger auserkoren hatte, womit er verhindern wollte, dass die Psychoanalyse als ‚jüdische’ Wissenschaft wahrgenommen werden konnte. Die Beziehung zu Jung war aber auch noch aus einem anderen Grund bedeutsam: seine Assoziationsstudien stellten eine Brücke zwischen der Psychoanalyse und der akademischen Psychologie her. Erinnern wir uns: Am Beginn der Psychoanalyse steht die Methode der freien Assoziation. Der Stammvater der experimentellen Psychologie, Wilhelm Wundt, hatte Assoziationsexperimente unternommen, auf die Jung zurückgriff, als er am Burghölzli begann, die Reaktionszeit zu messen, die zwischen einem Reizwort, das er psychiatrischen Patienten zurief, und deren Antworten (= freier Einfall) lag. Aus dem Manifesten – den Reaktionszeiten und Antworten – wurde auf das Latente – die „Komplexe“ des Patienten – geschlossen. Etwa zeitgleich erprobten Wertheimer und Klein unter Leitung des Kriminologen Hans Gross dieses Verfahren an der Universität Prag, um Täter zu überführen (vgl. Freuds Aufsatz „Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse“, 1906). Mit dem Zerwürfnis zwischen Freud und Jung und der auf institutioneller Ebene vollzogenen Trennung zwischen Freud und Bleuler rissen die Fäden, die zwischen der Psychoanalyse einerseits und der Psychiatrie und akademischen Psychologie andererseits geknüpft worden waren, dann für lange Zeit wieder ab. Der hier besprochene Briefband führt uns diese für die Geschichte der Psychoanalyse so wichtige Epoche im Lichte sehr persönlicher Zeugnisse noch einmal vor Augen – und öffnet damit auch den Blick für Fragen, auf die es nie nur eine Antwort geben wird.

Titelbild

Sigmund Freud / Eugen Bleuler: "Ich bin zuversichtlich, wir erobern bald die Psychiatrie". Briefwechsel 1904 – 1937.
Herausgegeben von Michael Schöter. Mit Geleitwort von Tina Joos-Bleuler und einem Beitrag von Bernhard Küchenhoff.
Schwabe Verlag, Basel 2012.
285 Seiten, 40,50 EUR.
ISBN-13: 9783796528576

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch