Die Sprache als reinstes Destillat
Paolo Cognettis Prosa
Von Francesca Bravi
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer 1978 in Mailand geborene Schriftsteller Paolo Cognetti hat zwei große Leidenschaften: die Berge, wohin er sich eine längere Zeit im Jahr zurückzieht und in einem kleinen Haus wohnt, um in der Natur zu leben, in den Wäldern zu wandern und um zu schreiben, und New York, wohin er fliegt, sooft er kann. Bevor er sich ganz dem Schreiben widmete, studierte er Mathematik und erwarb einen Abschluss an der Filmhochschule in Mailand (Civica Scuola di Cinema di Milano) im Fach Drehbuch. In diesem Bereich war er auch anfangs tätig und ist Autor von einigen sozialen, politischen und literarischen Dokumentarfilmen („Vietato scappare“, „Isbam“, „Box“, „La notte del leone“, „Rumore di fondo“). Im Verlag Minimum fax sind die Erzählungsbände „Manuale per ragazze di successo“ [etwa „Handbuch für erfolgreiche Mädchen“](2004) und „Una cosa piccola che sta per esplodere“ [„Eine kleine Sache, die vor der Explosion steht“] (2007) und „Sofia si veste sempre di nero“ [„Sofia kleidet sich immer in schwarz“] (2012) erschienen. Außerdem sind bei Laterza „New York è una finestra senza tende“ [„New York ist ein Fenster ohne Vorhänge“] (2010), bei Terre di Mezzo „Il ragazzo selvatico. Quaderno di montagna. La storia di una fuga per ritrovare se stessi“ [„Der wilde Junge. Bergheft. Die Geschichte einer Flucht, um sich selbst wiederzufinden“] (2013) und in der Reihe Allacarta/Food bei EDT „Tutte le mie preghiere guardano verso ovest“ [„Alle meine Gebete zeigen nach Westen“] (2014) erschienen.
Sein Debüt verdankt er 2004 der Veröffentlichung einer Erzählung in einer Anthologie. Es handelt sich um „Manuale per ragazze di successo“, das wenige Jahre später auch der Titel seines ersten Bands mit Erzählungen wurde. Die Anthologie „La qualità dell’aria. Storie di questo tempo“ [„Die Luftqualität. Geschichten aus dieser Zeit“] kam bei Minimum fax heraus und enthält 20 Erzählungen von italienischen Schriftstellern, die von ihrer Zeit, ihrem Alltag erzählen. In Cognettis Erzählung geht es um eine junge Frau, die als Werbetexterin in Mailand arbeitet und um die verrückte Welt der Werbefachleute, die Beziehungen zu den Kollegen, die Liebesbeziehungen, die Hoffnung, ein Kind zu bekommen.
Cognettis Erzählungen wurden alle von Minimum fax veröffentlicht, einem unabhängigen Verlag mit Sitz in Rom, der der jungen italienischen Literatur besondere Aufmerksamkeit schenkt. Paolo Cognetti schätzt sich sehr glücklich in diesen Verlag aufgenommen worden zu sein, weil er dessen Programm auch als Leser sehr schätzt. Ein wichtiger Schwerpunkt im Verlagsprogramm ist der amerikanischen Literatur gewidmet (vor allem Carver, aber auch Moody, A.M. Homes, Charles D‘Ambrosio, Peter Orner und viele andere), die für ihn von großer Bedeutung ist und die ihn sehr beeinflusste.
Der erste Band mit Erzählungen, „Manuale per ragazze di successo“, enthält sieben Kurzgeschichten. Es sind sieben Frauenportraits, die Liebe, Mutterschaft und Arbeit problematisieren. Es sind Frauen, die reisen und Karriere machen oder ein Vermögen erben, oder Frauen, die die Arbeit verlieren, die betrogen und verlassen werden, die mit dem Scheitern abrechnen, die neu anfangen und rebellieren, die mit den Hindernissen der Alltäglichkeit klarkommen müssen. In ihrer Nähe sind meist schwache und desorientierte Männer. Es sind also sieben Erzählungen, die wie ein Handbuch sieben Möglichkeiten darstellen, das Glück zu finden und zu verlieren und die von einer neuen Weiblichkeit in einem nüchternen Stil erzählen, der „eine teuflische Fähigkeit, in die Frauenwelt einzutreten“ zeigt. Cognetti ist „die Schriftstellerin mit dem Bart“.
Die folgende Veröffentlichung „Una cosa piccola che sta per esplodere“(im Titel erklingt noch das Echo von Carvers „Little things“) besteht auch aus Erzählungen. Diese Texte beschäftigen sich mit dem Thema der Jugend, der schwierigsten, aber auch der zärtlichsten Zeit im Leben. Dies dient als Rahmen für Geschichten von reichen, perversen und faszinierenden jungen Frauen, die in einer Magersucht-Klinik behandelt werden. Oder von jungen Männern, die mit der katastrophalen Trennung ihrer Eltern zu Recht kommen müssen. Es sind alles Augenblicke, in denen sich für die Figuren die Zukunft entscheidend definiert, die eigene Identität entdeckt und die Grausamkeit der Welt erfahren wird. Es sind aber alles Möglichkeiten, sich zu befreien und zu emanzipieren. Paolo Cognetti schafft es in seinen Erzählungen durch eine starke und präzise Schreibweise den Alltag zu erzählen. Er ist sicherlich auch einer der wenigen Schriftsteller, die es schaffen, den Leser zu fesseln.
Erst fünf Jahre später, 2012, erschien dann „Sofia si veste sempre di nero“, ein Buch, das sich nicht in einer Gattung festlegen lässt, ein „romanzo di racconti“, wie Cognetti selber schreibt, ein „Roman aus Erzählungen“. In „Sofia si veste sempre di nero“begleiten wir die Protagonistin Sofia Muratore auf verschiedenen Stationen ihrer ersten dreißig Lebensjahre. Wir lernen ihre gutbürgerliche Herkunft in Mailand und in Lagobello kennen, entdecken ihre Passion für das Theater, dem sie in Rom nachgeht und die sie durch Zweifel bis nach New York führt. Es sind dreißig Jahre persönlicher Geschichte, aber auch dreißig Jahre italienischer Geschichte. Es sind einzelne Einblicke in das Leben Sofias und der Menschen, die sie umgeben. Nur am Ende des Leseprozesses fügen sich die Einzelteile aus den verschiedenen Perspektiven zusammen und so entsteht aus dem Fragmentarischen ein Gesamtbild, das auch Lücken enthält, die der Leser selber füllen soll. So ist jede Erzählung in „Sofia si veste sempre di nero“gleichzeitig Kapitel eines Romans und selbständiger Text. Die einzelnen Erzählungen können also auch unabhängig voneinander existieren, oder zusammen ein Kaleidoskop bilden. Diese Struktur des Rekonstruierens und Zusammenfügens ist eine der Stärken des Buches und macht das Lesen zu einem spannenden Entdeckungsprozess. Cognetti fasziniert die Idee, nicht alles zu sagen, weil in einer Erzählung, mehr als in einem Roman, das wichtiger sei, was nicht da ist.
Die Prosa Cognettis ist von der amerikanischen Literatur (Hemingway, Salinger, Flannery O’Connor) und vor allem von den besten Autoren von Erzählungen beeinflusst: Raymond Carver, Grace Paley, Alice Munro, die alle nie einen Roman geschrieben haben, wie er in vielen Interviews betont. Für ihn sind aber auch italienische Schriftsteller wie Italo Calvino oder Beppe Fenoglio, die er vor allem als Autoren von Erzählungen schätzt, von großer Bedeutung. Cognettis Kurzprosa ist aber vor allem vor dem Hintergrund der amerikanischen Tradition der Short Story zu sehen: formal und auch inhaltlich spielen Kürze, Komplexität und Funktionalität eine große Rolle. Dieses Schreiben impliziert eine völlig unterschiedliche Art und Weise auf der Welt zu sein, die aus Fragmenten, kleinen Veränderungen, Entdeckungen über sich selbst und plötzlichen Erleuchtungen besteht. Für Paolo Cognetti befinden sich Erzählungen und Kurzgeschichten genau in der Mitte zwischen Roman und Lyrik. Die Form, die seine Texte annehmen, entspricht einem entscheidenden Merkmal unserer Zeit, weil sie gleichzeitig Ausdruck von Kürze und Komplexität sind, genauso wie Internet und TV-Serien, die Cognetti wie Kurzromane betrachtet. Er beruft sich dafür auch auf Raymond Carver, der in seinem berühmten Essay „On writing“ V. S. Pritchetts Definition einer Kurzgeschichte zitiert: „something glimpsed from the corner of the eye, in passing.”
Die Aufgabe des Kurzprosa-Autors bestehe darin, seinen Blick mit seiner ganzen Macht einzusetzen. Durch seine Intelligenz und seine literarische Fähigkeit kann es ihm gelingen, Sachverhalte so darzustellen, wie sie sind und wie er sie sieht, und wie sie auch kein anderer sieht. Carver spricht vom „sense of proportion“ und der „fitness of things“. In diesem Prozess spielt die Sprache eine zentrale Rolle. Eine klare, genaue und gewissermaßen destillierte Sprache ist in der Lage, Details ins Leben zu rufen, die die Geschichte erhellen werden. Die Details können nur durch eine präzise und akkurate Sprache konkret und sinngebend werden, wie es einer Begrifflichkeit entspricht, die Italo Calvino in den „Lezioni americane“ [Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Harvard-Vorlesungen] entwickelt hat. Die Kürze impliziert auch eine große Arbeit. Es reicht nicht, eine einzige Figur zu verfolgen, weil für jede Erzählung neue Hauptfiguren zu finden sind.
Von der kanadischen Nobelpreisträgerin Alice Munro übernimmt Cognetti die Vorstellung, dass eine Geschichte nicht wie eine Straße – also linear – auszusehen habe, sondern wie ein Haus, in das man hineinkommt. Man fängt an, die Geschichte ganz frei und in jede beliebige Richtung zu erforschen. Wenn man die Zeit nicht als eine Linie aus Vergangenheit und Zukunft versteht, kann man sie als einen Ort von vielen Formen der Gegenwart ansehen („un luogo di tanti presenti“) und Bilder und Geschichten auf eine andere Art entwickeln.
Von allen Städten, die Paolo Cognetti in seinen Erzählungen erkundet und neu leben und erleben lässt, ist New York sicher die wichtigste für ihn. Mittlerweile hat er der Stadt und ihrer Literatur zwei Bände gewidmet. „New York è una finestra senza tende“ (Laterza 2010) besteht aus einem Buch und einer DVD mit Cognettis Dokumentarfilm „Il lato sbagliato del ponte“ [„Die falsche Seite der Brücke“] (Minimum Fax Media), der auf eine Reise zu den Schriftstellern von Brooklyn führt. Das Buch ist aus verschiedenen Reisen nach New York entstanden, erzählt aber auch von dem New York, das Cognetti sich schon vor seiner ersten Reise aus seinen Lektüren gebildet hatte und in dem er sich nach seiner tatsächlichen Ankunft sofort heimisch fühlte. Cognetti ist in der Lage, in seiner Prosa das Erlebnis der ersten Begegnung darzustellen, Vertrautheit und Überraschung erwarten den Leser an jeder Ecke. Aus einzelnen Punkten entsteht eine Stadtkarte, die auch aus Lücken besteht, aus Orten, die er noch nicht besichtigt und Büchern, die er noch nicht gelesen hat. Deswegen ist dieses Buch ein Stadtführer der besonderen Art. New York wurde so oft beschrieben, dass ein Stadtführer nur dann sinnvoll erscheint, wenn er unvollständig, aber charakteristisch und persönlich ist. Brooklyn ist das Stadtviertel, in dem Paolo Cognetti sich zu Hause fühlt, weil er dort eine bestimmte Art Einsamkeit wiederfindet. Er geht gerne früh morgens durch New York und beobachtet. Es sind Orte voller Geschichten, „Orte der Seele“ wie Red Hook, Brooklyns geschlossener Hafen, oder Coney Island im Winter, wo man den Blick in die Weite von Ozean und Himmel schweifen lassen und Stille und Einsamkeit finden kann.
Das zweite Buch über New York ist in der Reihe Allacarta/Food bei EDT mit dem Titel „Tutte le mie preghiere guardano verso ovest“ 2014 erschienen. Es handelt sich dabei auch um einen Stadtführer, der zu einer Entdeckung New Yorks unter dem Gesichtspunkt der Vielfalt an Esstraditionen und -möglichkeiten einlädt.
In Brooklyn fühlt Cognetti sich zu Hause wie in den Bergen, wohin er sich zwischen Mai und Oktober zurückzieht. Es sind zwei unterschiedliche Formen von Einsamkeit, die nicht entgegengesetzt sind, es gibt keinen Kontrast Großstadt/Natur. Aus den Erfahrungen in den Bergen ist ein Band entstanden, der bei Terre di Mezzo 2013 mit dem Titel „Il ragazzo selvatico. Quaderno di montagna. La storia di una fuga per ritrovare se stessi“ erschienen ist. Paolo Cognetti wurde von Sean Penns Film „Into the Wild“ (2007) animiert, seine Liebe für die Berge, die er schon in seiner Kindheit als Urlaubsort kennengelernt hatte, neu zu entdecken. Die Berge sind der Ort des Sommers, wo er sich von allen Regeln und Zwängen befreien und in einen „wilden“ Zustand zurückkehren kann, was für ihn das Glück darstellt. Er hat ein isoliertes Haus auf zweitausend Meter Höhe gesucht und dort einsam gelebt. Der Film „Into the Wild“ erzählt von Chris McCandless, der nach Alaska aufbricht, um die Freiheit zu suchen und dabei den Tod findet. Die Ereignisse beruhen auf einer wahren Geschichte, die in einem Buch von Jon Krakauer erzählt wird. Paolo Cognetti hat die Einleitung für die im No Borders Magazine-Verlag erschienene italienische Ausgabe von „Back to the Wild“ verfasst, ein Band mit den Photographien und den wenigen von Chris McCandless hinterlassenen Texten. Man merkt dabei, wie wichtig für Cognetti die Lektüre über die Berge ist: Krakauer, Thoreau und Mario Rigoni Stern. Die Einsamkeit in der Wildnis stellt eine Möglichkeit dar, mit der Vergangenheit und mit sich selbst fertig zu werden und natürlich auch, aber erst in zweiter Instanz, über das Schreiben nachzudenken.
Paolo Cognetti ist ein bemerkenswerter Schriftsteller, der Aufmerksamkeit bei den deutschen Verlagen wecken sollte. Bisher sind auf Deutsch nur eine Erzählung in der 2011 bei Wagenbach veröffentlichten Anthologie „A casa nostra. Junge italienische Literatur“ und eine Erzählung aus „Sofia si veste sempre di nero“ in einer auf 150 Exemplare limitierten Edition zum Projekt leggìIO (http://leggiio.tumblr.com/PUB) zu finden. Es ist zu hoffen, dass auch deutsche Leser bald die Möglichkeit haben werden, weitere Aspekte seiner Prosa zu entdecken. Paolo Cognetti schreibt nicht viel, weil er dem „Ideal des stillen und scheuen Schriftstellers“ anhängt, aber er erzählt vom Lesen und Schreiben, von den Bergen und den USA auch in seinem Blog: http://paolocognetti.blogspot.de/
Und wenn er behauptet, dass er sich bemühen wird, seine Version der Welt zu erzählen und dass er das auf die ehrlichste Art und Weise machen wird, dann wird er das tun. Auf ihn kann man sich verlassen.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz