Explodierende Wale und andere Katastrophen

In Heinrich Steinfests Roman „Der Allesforscher“ sorgt ein Kind für Ordnung in der Welt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich Steinfest traut man alles zu. Kriminalromane, die sich zu Kosmologien auswachsen. Hai-Attacken mitten in Wien. Eine ganz neue Sicht auf das Stuttgart-21-Debakel. Und natürlich, dass er nicht nur schreibt wie ein Besessener, sondern nebenbei – Wirklich nebenbei? – auch noch malt und zeichnet, ein kinderliebender Vater ist, an Höhenangst leidet und seinem treuen Leser für beinahe jede denkbare Lebenslage den passenden Spruch irgendwo in einem seiner Werke hinterlassen hat. Werke, die vielleicht nur alle zusammen ein Ganzes ergeben.

Diesmal, in „Der Allesforscher“, geht es um ein Kind. Ein ganz besonderes Kind, muss man hinzufügen. Denn es spricht eine Sprache, die von keinem der in dem Roman auftretenden Erwachsenen verstanden wird. Außerdem klettert es so schnell und angstlos wie eine Gämse, ist ein genialer Zeichner und sorgt ganz nebenbei dafür, dass sein Vater von einer abenteuerlichen Situation in die nächste gerät, der Liebe begegnet und erkennt, dass es im Leben durchaus ausreichen kann, Vater zu sein.

Dabei ist Sixten Braun, Steinfests sympathischer Held, im strengen, biologischen Sinne gar nicht der Erzeuger des kleinen Simon. Doch weil dessen richtiger Vater auf der Flucht ist, landet das Kind nach dem Tod seiner Mutter, der in Tainan praktizierenden deutschen Medizinerin Lana Senft, bei dem Mann, der „als Vater in Frage“ kommt, weil er zum genau richtigen Zeitpunkt eine kurze, aber heftige Affäre mit der Ärztin hatte. Verständlich, dass sich Steinfests Held erst einmal weigert, sich zu einer Verantwortung zu bekennen, von der er genau weiß, dass er sie eigentlich nicht zu übernehmen braucht. Und als er, der Ex-Manager, der inzwischen in Stuttgart als Bademeister arbeitet, dem Jungen zum ersten Mal gegenübersteht, wird auch sofort an dessen markanter Augenstellung ersichtlich, dass Sixten gar nicht der leibliche Vater sein kann. Doch irgendetwas fasziniert ihn sofort an dem Knaben – und es beginnt das Abenteuer Vaterschaft.

Abenteuer übrigens hat dieser Sixten Braun, als er beginnt, eine kleine Familie um sich zu versammeln, schon genug hinter sich. Ein mitten auf der Straße explodierender Wal hat ihn ins taiwanesische Hospital und unter die Hände von Lana Senft gebracht, ein Flugzeugabsturz, den er mit viel Glück überlebte, ihn wieder von ihr entfernt. Zurück in Deutschland musste er erst eine kurze, unglückliche Ehe überstehen, ehe er im Stuttgarter Mineralbad Berg so etwas wie seine neue Berufung fand. Und dann ist da noch die Geschichte seiner beim Bergsteigen tödlich verunglückten Schwester, die ihm seit Jahren nachgeht und für unruhige Träume sorgt.

Doch mit dem Erscheinen Simons kehrt wie durch Zauberhand Ordnung in Sixtens Leben ein. Denn plötzlich ahnt er, wozu er, ein Suchender bisher, da ist. Und rund um ihn und das Kind nehmen undurchschaubare Dinge plötzlich Kontur an. Wie von selbst findet sich in einer Mitarbeiterin der taiwanesischen Vertretung in München eine Frau fürs Leben. Und Simons Begeisterung für das Klettern und die Berge führt dazu, dass sich Sixten endlich und (fast) furchtlos dem Trauma des Todes seiner Schwester stellen kann.

Heinrich Steinfest erzählt dies alles und noch viel mehr mit der Souveränität und ausufernden Fantasie, für die er inzwischen bekannt ist. Kleideten die meisten seiner Bücher sich allerdings bis dato in das Gewand von surrealistisch anmutenden Kriminalromanen, hat er dieses Genre inzwischen offenbar hinter sich gelassen. Das heißt freilich nicht, dass es keinerlei „kriminelle“ Episoden in seinem nach allen Seiten auseinanderschießenden Erzählkosmos mehr gibt – die Geschichte von Simons wahrem Vater etwa, dem Chinesen Auden Chen, der eine Creme erfunden hat, die die Fruchtbarkeit bei ihren Anwenderinnen potenziert, und dem die Konkurrenz deshalb ein Killerkommando auf den Hals hetzt, liest sich – und dazu trägt auch die Namensähnlichkeit der Protagonisten bei – nicht von ungefähr wie ein weiteres Abenteuer seines berühmten einarmigen Detektivs Markus Cheng.

Wenn die Welt, durch die jener sich bewegte, aber voller Fallen war, undurchschaubar und geheimnisvoll daherkam sowie mit bösen Überraschungen en masse für den Einzelnen aufwarten konnte, so bringt das „himmlische Kind“ Simon nun auf ganz natürliche Weise – und ohne dass es zu diesem Zweck auch nur ein einziges Erwachsenen verständliches Wort sprechen müsste – Ordnung in das Durcheinander. Es ist zugleich ein „Allesforscher“, wie der Titel die kindliche Sehnsucht nach Erklärungen für sämtliche Dinge, die ihm in der Welt begegnen, umschreibt, wie auch ein Alleskönner, der nicht lange fragt und zweifelt, sondern handelt. Für Sixten Braun stellt Simon den Kompass dar, der ihn auf den einzig richtigen Weg führt. Und das ganz im Sinne seines Erfinders, der an Kindern „ihre Talente, ihr Vermögen, ihr Fremdsein und ihr Behindertseinsein in der Welt, die sie erforschen, nicht zuletzt ihre Verbundenheit mit dem Unsichtbaren“ hervorhebt. Sie sind halt doch die besseren Erwachsenen.

Titelbild

Heinrich Steinfest: Der Allesforscher. Roman.
Piper Verlag, München 2014.
398 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783492054089

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